Der ukrainische Milliardär Petro Poroschenko, 59, wurde 2014 zum Präsidenten der Ukraine gewählt, nachdem sein Vorgänger Wiktor Janukowitsch im Zuge der proeuropäischen Maidan-Proteste aus dem Amt gejagt worden war. Während seiner Präsidentschaft versuchte der als prowestlich geltende Politiker entgegen der russischen Einflussnahme die europäische Integration seines Landes voranzutreiben und unterzeichnete die Minsker Abkommen für eine Lösung des Donbass-Konfliktes.

Nach Korruptionsvorwürfen verlor er 2019 die Präsidentschaftswahl gegen den damaligen Politik-Neuling Wolodymyr Selenskyj und führt seitdem die größte Oppositionspartei Europäische Solidarität an. Poroschenko hegt Ambitionen auf eine erneute Präsidentschaftskandidatur; die von Trump kritisierte, aber wegen des Kriegsrechts verhängte und verfassungskonforme Aussetzung der Wahlen in der Ukraine unterstützt er jedoch.

WELT: Herr Poroschenko, Sie haben in den letzten Monaten viel Zeit an der Front verbracht. Jetzt gibt es Gespräche über einen möglichen Frieden in der Ukraine. Wohin kann das führen?

Petro Poroschenko: Jede einzelne Woche dieses großflächigen Krieges bin ich an der Front. Das ist meine oberste Priorität. Unsere Streitkräfte haben beeindruckende Offensiven in Cherson und Charkiw durchgeführt. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich an den Friedensprozess glaube, so lautet meine Antwort: Nein.

WELT: Warum?

Poroschenko: Wegen Putin. Ich war sehr enttäuscht von dem Vorfall im Oval Office. Die Ukraine wird nicht gewinnen, doch auch Präsident Trump und die USA gewinnen nicht, denn es gibt nur einen Nutznießer dieser Situation: Putin. Wenn man uns fragt, ob wir zu einem sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand bereit sind, wäre meine Antwort: Ja. Ohne jede Diskussion. Weil die Situation mit Trump ein sehr kurzes, sehr schmales Fenster der Gelegenheit darstellt.

WELT: Wie lange ist es offen?

Poroschenko: Das weiß niemand. Aber definitiv nicht lange. Ein bis zwei Monate, nicht mehr.

WELT: Und danach? Was bedeutet das?

Poroschenko: Einen niemals endenden Krieg. Ich gehe davon aus, dass Putin keinen Waffenstillstand akzeptieren wird. Wenn Trump jeden erdenklichen Druck auf Putin ausübt, um einen Waffenstillstand zu erzwingen, um diesen innerhalb von ein bis zwei Wochen einzuleiten, wäre das sehr gut. Aber wenn nicht, wenn Putin Bedingungen und Vorbedingungen stellt, dann erwarte ich einen Plan B von Präsident Trump. Erstens: mehr Waffen für die Ukraine. Zweitens: mehr Sanktionen gegen Russland. Drittens: die transatlantische Einheit erneuern. Viertens: finanzielle Unterstützung. Fünftens: die Möglichkeit eines Nato-Beitritts.

WELT: Sie kennen Wladimir Putin, haben mehrfach mit ihm am Verhandlungstisch gesessen. Wie würden Sie seine Reaktion auf Trump bewerten?

Poroschenko: In der Diplomatie ist alles, was vor einem „aber“ kommt, bedeutungslos. Wenn Putin „Ja, aber“ sagt, dann vergessen Sie das „Ja“. In Putins Sprache bedeutet „Ja, aber“ „Nein“.

WELT: Aber Trump sagt öffentlich, dass er Putin vertraut.

Poroschenko: Das ist nur Trumps Verhandlungsstil. Ich bin absolut zuversichtlich, dass er Putin nicht vertraut.

WELT: Trump hat gesagt, dass die Verhandlungen laufen und die Signale gut sind. Putin hat gesagt, dass während einer 30 Tage andauernden Waffenruhe keine Waffen geliefert werden sollen und es keine Mobilisierung geben solle. Was passiert hier gerade?

Poroschenko: Putin hat noch gar nichts gesagt. Er ändert ständig seine Version, er spricht über Vorbedingungen. Meine Empfehlung an Präsident Trump und an Europa: keine Vorbedingungen. Wenn sie sagen, dass sie keinen Waffenstillstand erreichen können, bedeutet das Nein. Und dann müssen Sanktionen, Waffen, finanzielle Unterstützung, Einheit und Nato-Mitgliedschaft folgen. Putin sollte sich keine Illusionen machen: Wenn er keinen entscheidenden Schritt unternimmt, um den Krieg zu beenden, dann wird es ein Krieg aus der Hölle.

WELT: Aber die Ukraine steht momentan unter enormem Druck. Es sieht so aus, als müsste sie sich aus Kursk komplett zurückziehen.

Poroschenko: Sie haben recht. Wir müssen sofort aufhören, Menschen zu verlieren. Sofort aufhören, Gebiete zu verlieren. Und wir müssen sofort aufhören, Zeit zu verlieren. Die Situation in Kursk war wirklich extrem schlecht. Aber lassen Sie uns die Stärke der russischen Armee nicht überschätzen. Wir wissen, dass Russland, um eine Offensive in Kursk durchzuführen, alle anderen Offensivoperationen an der 2000 Kilometer langen Front einstellen musste.

WELT: Ja, aber sie nehmen dennoch Gebiete ein. Und die ukrainischen Truppen sind extrem erschöpft. Wahrscheinlich sind es die Russen auch. Aber wir sehen eine große Diskussion in der ukrainischen Bevölkerung über Fairness innerhalb der Armee. Immer mehr Menschen fragen sich: Wohin führt das?

Poroschenko: Die Soldaten sind erschöpft. Die Menschen sind erschöpft. Die Ukraine ist erschöpft. Und die Situation ist extrem schwierig. Deshalb sagte ich, dass wir entschlossen genug sein müssen.

WELT: Was meinen Sie damit?

Poroschenko: Zunächst einmal sollte Russland einen hohen Preis dafür zahlen, wenn es den Waffenstillstand nicht akzeptiert. Wir sollten viel mehr Langstreckenraketen haben. Und die kritische Infrastruktur Russlands sollte einen höheren Preis zahlen.

WELT: Das hören wir seit drei Jahren.

Poroschenko: Nein. Zwei, drei Jahre lang hatten wir keine Langstreckenraketen. Und wir haben nicht genug Luftabwehr. Jetzt haben wir keine nachrichtendienstlichen Informationen mehr. Und Sie sagen: Es hat sich nichts geändert. Wir sollten ATACMS haben. Wir sollten Taurus aus Deutschland haben. Wir sollten mehr Gepard-Panzer haben. Wir haben fast alle Luftverteidigungsraketen aufgebraucht.

WELT: Aber es fehlen auch die Soldaten.

Poroschenko: In dieser Situation brauchen wir keine zusätzlichen Soldaten. Wir haben genügend Leute. Sie haben recht: Wir haben nicht genug für Sturmoperationen an der direkten Frontlinie. Wir müssen Befestigungen aufbauen. Wir müssen uns um das Leben jedes einzelnen Soldaten kümmern. Wir sollten das Wort „Offensivoperation“ vergessen. Die Verteidigung des Territoriums hat oberste Priorität. Befestigungen, Minenfelder, modernste Luftabwehr gegen gelenkte Bomben. All diese Maßnahmen können Russland stoppen und zwingen, einen höheren Preis zu zahlen.

WELT: Lassen Sie uns über die innenpolitische Lage in der Ukraine sprechen: Hat Trump recht mit seiner Kritik?

Poroschenko: Wenn Sie mich nach einer Diktatur fragen, dann ist die Antwort klar: Der Diktator ist Putin. Aber es ist absolut inakzeptabel, wenn sich die Ukraine an die Grenzen der Demokratie und der Freiheit bewegt, wenn Angriffe auf die lokale Selbstverwaltung erfolgen, wenn der Oppositionsführer verfassungswidrig angegriffen wird. Das muss sofort gestoppt werden. Nicht, weil es um mich geht, sondern weil wir die Einheit bewahren müssen. Und Einheit ist ein entscheidender, sehr starker Faktor, um Putin zu stoppen.

WELT: Es gibt Gerüchte, dass man Sie wegen Hochverrats anklagen will. Es gibt Berichte über frühere Geschäfte mit Russland, als Sie noch Unternehmer waren.

Poroschenko: Nichts davon ist wahr. Ich kann keine parlamentarische Diplomatie betreiben. Ich kann keine Treffen mit meiner Schwesterpartei abhalten, nicht nach Deutschland reisen, nicht an der politischen Versammlung der Europäischen Volkspartei teilnehmen – alles illegal. Und das ist nur eine Demonstration der sehr unverantwortlichen Haltung von Wolodymyr Selenskyj und anderen.

WELT: Wie würden Sie Selenskyj nennen, wenn Sie ihn nicht als Diktator bezeichnen?

Poroschenko: Er ist ein unglücklicher Anführer eines Teams, das die Nation in Richtung Diktatur bewegt. Aber die Ukraine ist nicht Russland, und wir werden nicht zulassen, dass in der Ukraine eine Diktatur entsteht. Das ist der große Unterschied. Und ein weiterer Punkt, den wir jetzt vollständig verstehen müssen: Das ist nicht nur ein Angriff auf die Opposition, nicht nur ein Angriff auf die Freiheit und Demokratie, sondern auch ein Angriff auf unsere europäische Zukunft, denn die Rechtsstaatlichkeit, die jetzt brutal verletzt wird, ist entscheidend für unsere europäische Integration.

WELT: Trump will, dass Selenskyj zurücktritt. Sie auch?

Poroschenko: Punkt Nummer eins: Das ist nicht Trumps Entscheidung. Wer der Anführer der Ukraine sein wird, ist eine Frage für das ukrainische Volk. Punkt Nummer zwei: Ich denke, wir sollten Selenskyj danach fragen.

WELT: Ich frage aber Sie.

Poroschenko: Nein. Wir sollten Selenskyj fragen. Wissen Sie, was er in seinem Wahlprogramm 2019 gesagt hat? „Ich werde nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren. Ich höre nach der ersten Amtszeit auf.“ Wenn das sein direktes Versprechen ist, warum sollte ich dann meine Meinung dazu äußern? Ich verlasse mich auf ihn.

WELT: Hatten Sie in den letzten Monaten persönlich Kontakt zu Trump?

Poroschenko: Nein, aber ich habe mit seinem Team gesprochen. Ich hatte ein sehr gutes Treffen mit Michael Waltz, damals Kongressabgeordneter aus Florida. Jetzt ist er nationaler Sicherheitsberater. Ich bewunderte sehr, wie tiefgehend er über die Lage informiert war.

WELT: Hatten Sie den Eindruck, dass Waltz und andere Mitglieder aus Trumps Team einen Regierungswechsel in der Ukraine anstreben, also einen neuen Präsidenten?

Poroschenko: Wir haben solche Dinge nicht besprochen.

WELT: Was glauben Sie: Was ist Trumps Strategie in Bezug auf die Ukraine?

Poroschenko: Man versucht ihm vorzuwerfen, dass er nicht proukrainisch sei. Aber ich kann absolut garantieren, dass er nicht prorussisch ist. Er ist proamerikanisch, weil er der Präsident der Vereinigten Staaten ist. Um auf den Beginn unseres Gesprächs zurückzukommen: Wir haben ein Fenster der Gelegenheit. Wir können den Krieg stoppen. Und die einzige Person, die den Krieg stoppen kann, ist Präsident Trump.

Paul Ronzheimer ist stellvertretender BILD-Chefredakteur und Mitglied des Axel Springer Global Reporters Network. Hier lesen Sie sein Gespräch mit Petro Poroschenko bei bild.de. Ein Sprecher von Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte nicht auf mehrere Anfragen von BILD.

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