Als ein hoher europäischer Diplomat am Mittwochnachmittag in Brüssel gefragt wurde, warum am Donnerstag ein EU-Gipfel stattfindet, obwohl die Ergebnisse, laut der bereits vorliegendem Abschlusserklärung, äußerst mager ausfallen dürften, sagte er: „Der Gipfel muss stattfinden, weil er immer um diese Zeit stattfindet.“
Und so werden am Donnerstagmorgen wieder 27 Staats- und Regierungschefs und hunderte Diplomaten in ihren Limousinen und begleitet von Polizeieskorten mit heulenden Sirenen durch die Brüsseler Innenstadt sausen, um anschließend im Europagebäude bis tief in die Nacht zum Freitag erneut stundenlang über die Zukunft der Ukraine und über gigantische Aufrüstungspläne für Europa zu beraten. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird wieder vor Ort sein. Die Europäer sind die letzten Freunde, die er noch hat.
Aber was ist diese Freundschaft wert? Die Ukraine steht derzeit im Donbass und in den von Kiew besetzten Teilen der russischen Region Kursk massiv unter Druck. Es fehlen Waffen und Soldaten. Der Plan für eine 30-tägige Waffenruhe ist kläglich gescheitert, am russischen Präsidenten Wladimir Putin. Aber die Europäer an der Seite Selenskyjs schaffen es trotz intensiver Bemühungen nicht, an den Verhandlungstisch von Russen und Amerikanern zu kommen, wo über die Zukunft der Ukraine entschieden wird.
Wie weit die EU vom Spielfeld entfernt steht, zeigte eine Episode vom Mittwoch: Brüssel hatte 24 Stunden nach dem Telefonat zwischen Putin und US-Präsident Donald Trump über einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine immer noch keine Informationen zum Verlauf des Gesprächs. Es werde nun versucht, Gespräche zu organisieren, um Informationen aus erster Hand zu erhalten, sagte die EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas entnervt.
Trockene EU-Prosa, ein Sammelsurium aus Bekenntnissen und dem Anschein von Entschlossenheit
Nach zwei Wochen nun also schon wieder ein EU-Gipfel. 14 Paragrafen sind in der Abschlusserklärung dem Thema Ukraine gewidmet. Der erste Satz lautet: „Mit Hinweis auf die vorherigen Abschlusserklärungen bekräftigt der Europäische Rat seine fortgesetzte und unerschütterliche Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität innerhalb der international anerkannten Grenzen.“ So geht das immerzu weiter.
Das ist trockene EU-Prosa, ein Sammelsurium aus Bekenntnissen, frommen Absichten und dem Anschein von Entschlossenheit. „Der Europäische Rat bestätigt das genuine Recht der Ukraine, ihre eigene Zukunft zu wählen, basierend auf der UN-Charta und internationalem Recht.“ Das formulieren die Europäer schon seit Wochen so, manchmal variieren sie allerdings einen Satz, zuweilen streichen sie aber auch nur ein Komma.
Trotzdem ist vor diesem EU-Gipfel einiges neu. Erstens: Ungarn hat sich unter dem rechtspopulistischen Putin-Freund Viktor Orbán endgültig davon verabschiedet, die Ukraine in wesentlichen Punkten weiter zu unterstützen. Dadurch wird in der Ukraine-Politik aus einer Union der 27 eine Koalition der Willigen von 26 Ländern. Diplomaten reagieren zunehmend ungehalten auf die Extra-Touren der Regierung aus Budapest. „Wir können sie ja nicht vor die Tür werfen – auch wenn sich die Ungarn in wichtigen Fragen nicht mehr mit der EU identifizieren“, heißt es in Diplomatenkreisen. EU-Beamte betonen zugleich, die bisherigen Streichungen von Finanzmitteln wegen Rechtsstaatsverstößen hätten bei Orbán nicht zum Einlenken geführt. „Im Gegenteil“, sagte ein Diplomat.
Zweitens: Neu ist vor dem Spitzentreffen an diesem Donnerstag auch, dass mit Blick auf Fragen der Aufrüstung der Riss zwischen den südlichen Mitgliedstaaten auf der einen Seite und den östlichen und nördlichen EU-Ländern auf der anderen Seite immer größer wird. Den Regierungen in Rom, Madrid und Lissabon etwa gehen die Fokussierung Brüssels auf immer mehr Ausgaben für die Verteidigung Europas, aber auch die Schreckensszenarien eines möglichen russischen Angriffs auf EU-Territorium zunehmend auf die Nerven. Dies wurde nach WELT-Informationen auch bei den Beratungen der zuständigen EU-Botschafter zur Vorbereitung des Gipfels zu Beginn dieser Woche deutlich.
Grund für den Unmut: Die Bevölkerung dieser Länder fühlt sich nicht von Moskau bedroht, die südlichen EU-Länder fürchten dafür umso mehr illegale Migration, Terrorismus aus islamistischen Staaten und Armut im eigenen Land. So schlug Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez erst vergangene Woche vor, Ausgaben für den Klimaschutz doch bitte schön auch unter Verteidigungsausgaben zu verbuchen. Italiens Außenminister Antonio Tajani wiederum betonte, sein Land müsse erst einmal Geld finden, um die eigenen Verteidigungsausgaben zu erhöhen. „Es gibt eine Menge Ausgaben, die in Angriff genommen werden müssen“, säuselte Tajani.
Drittens: Neu sind nicht nur die Risse bei der Bewertung über die Dringlichkeit von Aufrüstung, sondern auch die steigende Skepsis bei immer mehr EU-Mitgliedstaaten über die Notwendigkeit, irgendwann europäische Friedenstruppen zur Überwachung eines Waffenstillstands in die Ukraine zu entsenden. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni fauchte am Mittwoch bei einer Rede im Senat in Rom in Richtung ihrer Kollegen Emmanuel Macron (Frankreich) und Keir Starmer (England) in bisher unbekannter Offenheit: „Wir glauben, dass die in einem Vorschlag von Großbritannien und Frankreich vorgeschlagene Entsendung von europäischen Truppen sehr komplex, riskant und ineffektiv ist.“
Wie können die Europäer vor diesem Hintergrund nur erwarten, dass Trump und Putin sie ernst nehmen und Europa bei Verhandlungen ernsthaft ins Kalkül ziehen? Auf die schriftliche Anfrage der Amerikaner von Ende Februar, wie viele Soldaten die EU zur Überwachung eines Waffenstillstands in die Ukraine schicken könnte, hat Washington außer blumigen Erklärungen aus Paris bis heute noch keine Antwort erhalten.
Immerhin: In Paragraf 9 der Abschlusserklärung dieses EU-Gipfels heißt es: „Er (der Europäische Rat; Anm. d. Red.) appelliert an die Mitgliedstaaten die Bemühungen dringend zu verstärken, um die militärischen und verteidigungspolitischen Erfordernisse der Ukraine zu befriedigen“.
Im Klartext bedeutet das: Alle EU-Länder sollen schnellstmöglich deutlich mehr Waffen und Munition liefern als bisher. „Dies ist ein entscheidender Moment für die europäische Sicherheit, ein entscheidender Moment, um zu handeln“, sagte EU-Chefdiplomatin Kallas. Darum hatte die frühere Ministerpräsidentin Estlands am vergangenen Montag den EU-Außenministern auch einen wegweisenden Vorschlag vorgelegt: Demnach sollen die Europäer der Ukraine in diesem Jahr freiwillig Hilfen im Wert von 20 bis 40 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Dafür sollen Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Wirtschaftskraft Beiträge leisten.
Das wäre für Deutschland kein Problem gewesen, denn Berlin will die Ukraine in diesem Jahr allein mit sieben Milliarden Euro unterstützen. Frankreich, Spanien und Italien müssten ihre Unterstützung für die Ukraine hingegen deutlich ausbauen. Die drei Länder stellten laut Institut für Weltwirtschaft (IfW) in den vergangenen Jahren zusammen nur 5,7 Milliarden Euro an Militärhilfen für die Ukraine zur Verfügung. Das kleine Dänemark lag dagegen allein 7,5 Milliarden Euro.
Bittere Rückschläge für Kiew
Und so kam es, wie es nach der Logik des Brüsseler Maschinenraums kommen musste: Länder wie Frankreich, Spanien und Italien, aber auch viele weitere Staaten, sperrten sich gegen eine schnelle Unterstützung der Ukraine in zweistelliger Milliardenhöhe im Jahr 2025. Von Kallas‘ Plan bleibt nur noch ein trauriger Torso übrig. Angestrebt wird nun eine Einigung in diesem Jahr auf die Lieferung von zwei Millionen Artilleriegeschossen im Wert von fünf Milliarden Euro. Ob das Geld jemals zusammenkommt, ob die Munition pünktlich geliefert wird – alles völlig offen.
Aus Sicht von Kiew sind die gescheiterten Pläne von Kallas bittere Rückschläge. Das tut der Neigung der Europäer zu neuen hochfliegenden und vollmundig verkündeten Plänen aber keinen Abbruch. Bereits seit mehr als 20 Jahren verkündet Brüssel, dass die Europäer bei der Produktion von Verteidigungsgütern stärker zusammenarbeiten sollen. „Viele Jahre wurden mit Nichtstun verschwendet“, kritisierte kürzlich der mächtige EVP-Fraktions- und Parteichef Manfred Weber (CSU).
Aber warum sollte es wenigstens dieses Mal nicht klappen? Russland bedroht die Sicherheit Europas und die USA koppeln sich schrittweise von Europa ab. Die Zeit war also reif für ein neues Strategiepapier der EU-Kommission zu Verteidigungsfragen, im Brüsseler Jargon „Weißbuch“ genannt.
Die Chefs sollen am Donnerstag über das erst einen Tag zuvor präsentierte „Weißbuch“ der Kommissionsbehörde beraten. Diplomaten sagten, es werde „Zustimmung erwartet“. Warum auch nicht? Solange die Pläne unverbindlich sind und allerlei Allgemeinplätze enthalten, fällt es niemandem schwer zuzustimmen. „Die Geschichte wird uns Untätigkeit nicht verzeihen“, heißt es bedeutungsschwer in dem Papier der EU-Kommission. Die EU müsse sich auf einen groß angelegten Krieg mit Russland vorbereiten. Bereits 20230 könnte dies der Fall sein, lautet die düstere Prognose aus Brüssel.
Aber dafür gibt es eine Lösung: Laut Strategiepapier müssten die Europäer künftig viel mehr auf eigenen Beinen stehen, denn die ehemals verlässliche Sicherheitsstruktur, die wesentlich auf dem Beistand Washingtons fußte, werde nach den neuen Weichenstellungen durch Trump erodieren. Ergo: Die EU muss massiv aufrüsten und militärische Fähigkeitslücken schließen. Dazu gehörten die Luftverteidigung, Raketenabwehr, Artilleriesysteme, Drohnen und militärische Transportkapazitäten. Und wie schon vor über 20 Jahren lautet der wichtigste Appell in diesem Zusammenhang: „Die gemeinsame Beschaffung ist das effizienteste Mittel zur Beschaffung großer Mengen von ‚Verbrauchsgütern‘, wie Munition, Raketen und Drohnen.“
Die EU-Kommission will 800 Milliarden Euro neu mobilisieren, um in den kommenden vier Jahren eine massive Aufrüstung zu finanzieren. Ob das auch nur annähernd gelingen wird, steht aber in den Sternen. Bisher sind die Zahlen nur Ankündigungen, die durch nichts belegt sind, außer durch Brüsseler Zahlenzauber.
Denn letztlich entscheidet nicht die Behörde unter Führung von Kommissionschefin Ursula von der Leyen, wie viel Geld zusätzlich in Rüstung investiert wird, sondern das tun ganz allein die Mitgliedstaaten. Dabei sollen die Haushaltsregeln des Stabilitätspaktes für vier Jahre so gelockert werden, dass die Verteidigungsausgaben ab einer gewissen Höhe nicht mehr unter die sogenannten Maastricht-Kriterien fallen. Aber ob das reichen wird, Hunderte Milliarden Euro zusätzlich zu mobilisieren?
Hinter den Kulissen wird bereits heftig darum gerungen, wie die Aufrüstung am Ende finanziert werden soll. Die östlichen und südlichen Länder favorisieren Euro- oder Verteidigungsbonds, Länder wie Deutschland, Österreich und die Niederlande sind dagegen und fordern nationale Anstrengungen. Nur, wie lange noch können sie dem Druck aus Rom, Paris und Warschau standhalten? Die Debatte ist heillos verfahren.
Substanzielle neue Waffenlieferungen werden die Europäer nicht verkünden
Verkompliziert wird die Lage auch noch dadurch, dass die EU-Kommission wie eine Planungsbehörde vorgibt, dass die Bedingung für gemeinsame Projekte mehrerer Länder bei der Beschaffung von Rüstungsgütern ist, dass das Geld in Rüstungsgüter fließt, die zu mindestens 65 Prozent in der EU, Norwegen, Island, Liechtenstein, der Schweiz oder der Ukraine hergestellt werden. Bei komplexen Anschaffungen wie Luftverteidigungssystemen will die EU-Kommission zudem sicherstellen, dass diese nicht aus dem Ausland faktisch abgeschaltet werden können. Darum muss ein europäischer Hersteller die Kernkompetenzen eigenhändig ersetzen können.
Es ist offen, ob die beispiellose Milliarden-Aufrüstung bei so restriktiven und bürokratischen Planungszielen, bei zahlreichen gegensätzlichen Interessen und bei zunehmender Verwirrung unter den Akteuren jemals gelingen wird. Aber zumindest dies ist klar: Neue substanzielle Waffenlieferungen an die Ukraine werden die Europäer am Donnerstag nicht verkünden.
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