Vorbei ist es noch lange nicht. Mit 64 Abgeordneten ist die tot geglaubte Linke am Sonntag in den Bundestag eingezogen. Auf den Treppen des Paul-Löbe-Hauses versammelte sich die neue, stark gewachsene Linksfraktion am Dienstag – und skandierte: „Alerta, alerta, antifascista!“

Die Partei tritt ausgesprochen selbstbewusst auf. „Wir wissen, wie Opposition geht“, sagte der Co-Linke-Chef Jan van Aken am Montag in der Bundespressekonferenz. Der mutmaßlich nächste Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) könne sich „warm anziehen“, so van Aken. „Wir werden nachhaken, wir werden nachbohren, wir werden Skandale aufdecken, wir werden diese Regierung kontrollieren und jeden Angriff auf den Sozialstaat bekämpfen – sowohl im Parlament als auch auf der Straße.“

Allerdings kam selbst für viele Kandidaten der Wahlerfolg vom Wochenende überraschend. Der neuen Fraktion gehören auch Abgeordnete an, die keinerlei Parlamentserfahrung haben, sich mit eher theoretischer Aussicht auf Erfolg auf die Liste gesetzt haben – und bis vor ein paar Tagen noch mitten im Berufsleben standen. Auch besonders radikale Stimmen sind dabei.

WELT stellt hier sechs Bundestagsneulinge vor, die aus der neuen Fraktion hervorstechen:

Die Islamismus-Gegnerin: Cansu Özdemir

Wie der Erfolg die Linke überrollt hat, zeigt Cansu Özdemir: Die Hamburgerin tritt am Sonntag als Spitzenkandidatin zur Bürgerschaftswahl an – und kam durch den Wahlerfolg nun überraschend in den Bundestag. „Da konnte niemand mit rechnen“, sagt die 36-Jährige zum Rekordergebnis ihrer Partei in Hamburg und ihrem Einzug ins Parlament. Sie freue sich, müsse das „aber erst mal verarbeiten und diese Situation vor allem auch privat mit meiner Familie klären“.

Özdemir ist als Tochter kurdischer Eltern in Hamburg aufgewachsen. In ihrer Jugend sei die kurdische Frauenbewegung politisch prägend gewesen, sagt sie. Später engagierte Özdemir sich gegen Zwangsverheiratung, Gewalt gegen Frauen oder Armut. Seit vielen Jahren setzt Özdemir sich gegen den Islamismus ein. 2015 etwa warnte sie vehement vor Anwerbeversuchen durch Islamisten vor Flüchtlingsunterkünften sowie der dortigen Bedrohung von jesidischen oder christlichen Asylsuchenden durch Mitbewohner. Die Linke, so ihre Kritik, müsse die islamistische Bedrohung ernster nehmen.

Dass der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 auf Israel von Linken als Widerstand glorifiziert wurde, wies sie scharf ab: Die Hamas sei eine „islamistische Terrororganisation, die von der türkischen und iranischen Diktatur unterstützt wird“, schrieb sie auf X. „Leichen zur Schau stellen und Kinder entführen ist kein Widerstand. Es ist Terror.“

Özdemir fordert darüber hinaus ein Verbot der rechtsextremen türkischen Grauen Wölfe und wirft der scheidenden Ampel-Regierung hier Versagen vor. „Die mörderische Ideologie der Grauen Wölfe wird von der Bundesregierung verharmlost und ihre Aktivitäten toleriert“, sagte sie im Sommer, als der Wolfsgruß, ein Erkennungszeichen der Bewegung, zuhauf während der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland gezeigt wurde. Özdemir unterstützte den kurdischen Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat – und fordert die Aufhebung des deutschen Betätigungsverbots der auf der EU-Terrorliste geführten PKK.

Der Autowerk-Arbeiter: Cem Ince

„Wir werden uns gemeinsam wehren“, sagt Cem Ince in seinem Kampagnenvideo. „Wir werden den Klassenkampf gewinnen.“ Eine Einstellung, die der 31-jährige Linke-Politiker von seiner Familie geerbt hat: Inces Großvater arbeitete als kurdischer Gastarbeiter aus der Türkei im Stahlwerk von Salzgitter, auch Inces Vater lernte dort, ist heute Betriebsrat bei Volkswagen in der niedersächsischen Stadt. „Ich bin Gastarbeiterkind und Gewerkschafter in dritter Generation“, sagt Ince über sich und seine Familie. „Die beiden sind der Grund, warum mein Kompass nach links zeigt.“

Ince arbeitete bis zu seinem Bundestagseinzug vom vergangenen Wahlsonntag im VW-Werk in Salzgitter. Dort absolvierte er eine Ausbildung zum Elektroniker für Automatisierungstechnik, später eine Weiterbildung zum Softwareentwickler, wie der „Freitag“ berichtete. Als Gewerkschafter beteiligte Ince sich an Streiks, im Bundestag will er auf eine linke Industriepolitik setzen.

Die Transformation seiner Automobilbranche wolle er mit den Arbeitern mitgestalten. „Wir können es nicht mehr ertragen, dass realitätsferne Manager und Vorstände unsere Arbeitsplätze für immer größere Gewinne aufs Spiel setzen“, so Ince in seinem Video aus dem Wahlkampf.

Der junge Gewerkschafter steht symbolisch für eine neue Entwicklung in der Partei. Unter den erst im vergangenen Oktober gewählten Vorsitzenden van Aken und Ines Schwerdtner soll es wieder mehr um klassisch sozialistische Themen wie Umverteilung, Arbeitskämpfe und Mietpreise gehen, Arbeiter und Gewerkschafter wie Ince in politische Ämter kommen. Die Ex-Parteiführung um Janine Wissler und Martin Schirdewan wurde vielmehr der „Bewegungslinken“ zugeordnet, setzte auf außerparlamentarische Protestbewegungen und stellte die Klimaaktivistin Carola Rackete als parteilose Spitzenkandidatin zur Europawahl auf. Die Linke holte bei jener Europawahl 2024 lediglich 2,7 Prozent der Stimmen.

Einzelne Positionen des Neuabgeordneten könnten allerdings noch zu Konflikten in der Partei führen, die zuletzt heftig über ihre Position zu Israel, dem Gaza-Krieg und israelisch-palästinensischen Konflikt geführt hat. Auf Instagram schrieb er kürzlich: „Die Regierung um Netanjahu ist erwiesen faschistisch.“

Die Notaufnahme-Krankenpflegerin: Stella Merendino

Den Kampf um Leben und Tod kennt Stella Merendino nicht nur von ihrer krisengeplagten Partei. Knapp acht Jahre arbeitete die 30-jährige Krankenpflegerin in der Notaufnahme, zuletzt am Vivantes Humboldt-Klinikum in der Berlin. „Wir saßen oft da und hatten einfach keine Kraft mehr“, erzählte Merendino dem „Neuen Deutschland“ von ihren Erfahrungen in der Corona-Pandemie, als ihre Station oft am absoluten Limit gearbeitet habe. Diese Zeit sei „wirklich traumatisierend“ gewesen.

Merendino ist in Polen geboren und im Berliner Wedding aufgewachsen. Sie zieht ebenfalls völlig überraschend in den Bundestag ein. In die Linke trat Merendino erst 2023 ein, begrüßte damals die Trennung von der heutigen BSW-Chefin Sahra Wagenknecht.

Zuvor engagierte sich Merendino sich in der Berliner Krankenhausbewegung, einer Vereinigung von Beschäftigten aus dem Berliner Gesundheitssystem. In jener Funktion führte Gespräche mit der Berliner Politik, protestierte – und trat mit ihren Kolleginnen und Kollegen in den Streik für bessere Arbeitsbedingungen.

Überlastung und Unterfinanzierung des Gesundheitssystems erlebte Merendino entsprechend am eigenen Körper. „Wenn ich mich in der Rettungsstelle zum Beispiel um einen 18-jährigen Obdachlosen kümmere, der vom System ausgespuckt wurde, weiß ich, was hier schiefläuft“, sagte sie dem „Neuen Deutschland“. Merendino will für ein „solidarisches Gesundheitssystem“ kämpfen – und eine Stimme der Arbeiterschaft gegen die „Politiker*innenklasse“ im Parlament sein.

Der Anti-Israel-Aktivist: Ferat Koçak

Kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 sendete der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel (SPD), eine heftige Rüge an den Linke-Politiker Ferat Koçak: „Das Verhalten von Herrn Kocak ist verantwortungslos, er kippt damit Öl ins Feuer.“

Hintergrund waren Proteste gegen Israel in Berlin, auf denen teils das Massaker mit 1200 ermordeten Israelis bejubelt wurde. Der Linke-Politiker trat bei propalästinensischen Protesten wiederholt in Erscheinung. Er beklagte im Internet gegen Palästinenser gerichtete Handlungen von Polizei oder Schulen, die sich im Anschluss teils als unwahr herausstellten.

Heute unterstellt Koçak dem Staat Israel, einen „Genozid“ in Gaza zu verrichten. Im Portal „Abgeordnetenwatch“ schrieb er zum 7. Oktober in Israel: „Terror ist durch nichts zu rechtfertigen, Israels brutaler Angriff mit zehntausenden Toten noch viel weniger.“

Der 45-jährige Diplom-Fachwirt ist als Sohn kurdischer Einwanderer aus Anatolien in Berlin geboren und in Neukölln aufgewachsen. Seit 2021 saß er für die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Im Wahlkampf habe er mit seinem Team nach eigenen Angaben an über 139.000 Haustüren geklingelt, um Gespräche über die Sorgen der Neuköllner zu sprechen. Die Partei legte im Wahlkampf einen Schwerpunkt auf die hohen Mietpreise, ein in Neukölln bekanntes Problem. Erstmals gewann die Linke mit Koçak ein Direktmandat in Westdeutschland. Sein künftiges Gehalt will er, wie viele Linke-Bundestagsabgeordnete, auf 2500 Euro deckeln.

Koçak war im Februar 2018 von einem rechtsextremen Brandanschlag betroffen. Zwei Neonazis zündeten das Auto des Linke-Politikers, das auf dem Grundstück seiner Eltern in Berlin-Neukölln geparkt war, an. Die Flammen hätten auf das Haus übergehen können. Die beiden Rechtsextremisten wurden für diesen und weitere Anschläge verurteilt, Koçak trat als Nebenkläger auf. Er warf den Sicherheitsbehörden vor, ihn im Vorfeld nicht gewarnt zu haben.

Später wurde Koçak als radikaler Aktivist bekannt. So demonstrierte er etwa im Februar 2023 gegen die Eröffnung einer Polizei-Wache am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Das damalige Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus sah das als „Law-and-order-Entwicklung“ und ein Instrument der Verdrängung von Armen und Abgehängten. Auf einem großen Transparent wurden Polizisten als „Mörder“ bezeichnet.

Sein Neuköllner Bezirksverband paktierte auch mit besonders israelfeindlichen Gruppen wie „Palästina spricht“: Auf einer Demonstration, zu der man gemeinsam aufrief, wurde die „Intifada“, also der Kampf gegen israelische Zivilisten, gefeiert. „Palästina spricht“ bejubelte den Terror vom 7. Oktober als „Lektion in Sachen Befreiung von Gaza“.

Jenes Engagement gegen Israel habe nichts mit Antisemitismus zu tun, betonte Koçak im Oktober 2024 in einem Interview mit dem linken Magazin „Jacobin“. „Wenn wir den Protest gegen Krieg, Besatzung und Deutschlands Rolle in der Unterstützung des genozidalen Vorgehens Israels im Gazastreifen und dem Westjordanland pauschal als antisemitisch diffamieren, verliert der Begriff dadurch jeglichen Erklärungswert.“ Zuvor kam es zu einem heftigen Konflikt auf dem Berliner Landesparteitag: Die Linke konnte sich nicht durchringen, der Hamas einen „eliminatorischen“ Judenhass zu bescheinigen.

Der Ex-Biowaffeninspekteur: Jan van Aken

Im Wahlkampf sendete Jan van Aken seiner Ex-Genossin Sahra Wagenknecht eine deutliche Botschaft: Sie sei Vorsitzende einer „Kreml-Partei“ und fordere die Ukraine auf, sich zu einem „Diktatfrieden“ zu ergeben. Er hingegen stehe für echten Frieden, bei dem sich die russischen Truppen voll zurückziehen sollten.

Der 63-jährige Hamburger saß schon einmal für die Linke im Bundestag, organisierte später Kampagnen für Greenpeace und war Biowaffeninspekteur der Vereinten Nationen (UN). Im Wahlkampf fiel er vor allem durch seine radikale Forderung nach Abschaffung von Milliardären auf – unterstrichen von seinem Pullover mit der Aufschrift „Tax the rich!“

Eigentlich kommt van Aken allerdings aus der Friedensbewegung. Er lehnt, wie seine Partei, Waffenlieferungen an die von Russland überfallene Ukraine ab. Diese Blockadehaltung ist plötzlich relevant: Gemeinsam mit der AfD, die ebenfalls keine Waffen an die Ukraine liefern will, besitzt die Linke eine Sperrminorität im kommenden Bundestag. Die Parteien können Gesetzesänderungen mit Zwei-Drittel-Mehrheit, etwa zur Aufhebung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben, damit blockieren. Das Budget der Bundeswehr reiche für die Landesverteidigung aus, betonte van Aken am Montag in der Bundespressekonferenz. Mit der AfD wolle man nicht in einen Topf geworfen werden.

Der Linke-Parteichef zeigte sich – im Gegensatz zu Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – allerdings offen für UN-Blauhelmsoldaten in der Ukraine. Diese könnten aus China kommen, schließlich scheue Moskau den Konflikt mit Peking, so van Aken. Deutsche Soldaten sollten es wegen der Verbrechen der Wehrmacht nicht sein: „Wieder deutsche Soldaten kurz vor Stalingrad finde ich erstmal ein schlechtes Signal“, sagte er. Über die Blauhelmmission sollte jedoch jetzt schon diskutiert werden.

Doch van Aken wird in seiner Fraktion auch auf andere Stimmen treffen. Sören Pellmann, scheidender Chef der Linke-Gruppe, darf nicht mehr in die Ukraine einreisen. Der Leipziger gewann erneut sein Direktmandat. Im Wahlkampf 2021 ließ er weiße Tauben als Zeichen des Friedens in den Himmel steigen – gemeinsam mit Wagenknecht und dem russischen Generalkonsul Andrej Yurevich Dronov.

Der Ex-Landesvater: Bodo Ramelow

Bodo Ramelow räumte erst kürzlich sein Ministerpräsidentenbüro in der barocken Erfurter Staatskanzlei aus dem 18. Jahrhundert frei. Dort sitzt jetzt der neue Ministerpräsident Thüringens, Mario Voigt (CDU). Doch Ramelow fand recht schnell eine Anschlussbeschäftigung: Der 69-Jährige bezieht nun ein Bundestagsbüro in Berlin.

Auf die Niederlage der Linken bei den Thüringer Landtagswahlen im September und dem damit verbundenen Ende von Ramelows Zeit als Landesvater folgte ein Medien-Coup. Gemeinsam mit den Partei-Urgesteinen Dietmar Bartsch und Gregor Gysi kandidierte Ramelow in einer „Mission Silberlocke“ für je ein Direktmandat. Ziel: durch die notwendigen drei Direktmandate den Wiedereinzug in den Bundestag schaffen – egal, ob man fünf Prozent der Zweitstimmen erreicht oder nicht. Gysi und Ramelow gewannen ihren Wahlkreis tatsächlich – auch wenn der Wahlkampf-Hype um die Linke dazu führte, dass die Partei darauf plötzlich gar nicht mehr angewiesen war. Der Gewinn seines Direktmandats ist allerdings ein beachtlicher Erfolg: Bis auf Ramelow gewann die AfD sämtliche Direktmandate im tiefblauen Thüringen.

Ramelow war Gewerkschafter, bevor seine langjährige Politikkarriere begann. Seit 1994 saß er im Thüringer Landtag, ab 2014 war er – mit kurzer Unterbrechung – bis 2024 Ministerpräsident des Freistaats. Und damit der einzige Ministerpräsident der Linken überhaupt.

Ramelow sprach sich zwar gegen ein „Wettrüsten“ aus. Doch er betonte auch, dass die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland eben auch Waffen brauche. In weiten Teilen der Wagenknecht-Partei gilt Ramelow deswegen heute als Feindbild – auch, weil Ramelow sich in einem „Spiegel“-Interview nach der Wahl offen für eine konstruktive Zusammenarbeit mit der möglichen nächsten schwarz-roten Bundesregierung zeigte. Der AfD müsse das „Erpressungspotenzial“ genommen werden. „Ich bekämpfe die Normalisierung des Faschismus“, so Ramelow.

Wagenknecht sieht das anders: Ramelow habe damit bewiesen, dass die Medien ihre Partei bekämpft und die Linke gefördert habe, sagte die BSW-Chefin am Mittwoch: „Denn bei uns wussten sie: Wir würden uns derartigen Kriegskrediten immer verweigern.“ Nach dem Scheitern des BSW an der Fünf-Prozent-Hürde sind solche Statements der Linke-Abspaltung allerdings nur Einwürfe von der Seitenlinie.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Linkspartei.

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