Nach seiner Festnahme am Mittwoch wurde Ekrem Imamoglu in ausländischen Medien – auch in der WELT – als „aussichtsreichster Herausforderer“ des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan bezeichnet. Formal korrekt. Aber die Wahrheit lautet: Ganz gleich, ob der Amtsinhaber einen Weg findet, das Verfassungsgebot zu umgehen, das ihm eine weitere Amtszeit untersagt, oder ob bei der Präsidentschaftswahl 2028 jemand anderes für die Regierungspartei AKP antritt, hätte er keine Chance.

Und einzig darum muss der Istanbuler Oberbürgermeister ins Gefängnis. Am Sonntagmorgen, nach vier Tagen in Polizeigewahrsam, verhängte ein Istanbuler Gericht Untersuchungshaft gegen Imamoglu. Auch zahlreiche seiner Vertrauten und Mitarbeiter der Stadtverwaltung, 21 weitere Personen, müssen ins Gefängnis. Für die insgesamt über hundert weiteren Beschuldigten dauerte die Gerichtsanhörung fort.

Nähere Beachtung verdient der Vorwurf der Korruption nicht. Seit Imamoglus Wahl im Frühjahr 2019 haben Buchprüfer des Finanzministeriums etliche Male die Istanbuler Stadtverwaltung kontrolliert und nichts gefunden, weshalb die Staatsanwaltschaft ihre Anschuldigungen auf anonyme Zeugenaussagen vom Hörensagen stützt. Weder hat die Staatsanwaltschaft wegen eines begründeten Anfangsverdachts ermittelt, noch ist das Gericht nach Prüfung der Beweismittel zu einem unabhängigen Urteil gelangt. Imamoglu muss ins Gefängnis, weil Erdogan will, dass er ins Gefängnis muss. Weil Erdogan weiß, dass er gegen den Politiker der Oppositionspartei CHP keine Chance hat.

Zuvor hatte schon die Universität Istanbul wegen eines angeblichen irregulären Fachwechsels Imamoglus Hochschulabschluss annulliert und ihn damit der Voraussetzung beraubt, für das Amt des Staatspräsidenten zu kandieren. Zudem wurde das Bauunternehmen, das seit 1950 im Besitz der Familie Imamoglu ist und zu dessen Teilhabern Ekrem Imamoglu gehört, beschlagnahmt. Erdogan ist wild entschlossen, Imamoglu in jeder Hinsicht fertigzumachen.

Die Proteste haben nicht gereicht

An politisch motivierte Gerichtsurteile hat sich die Türkei Jahren gewöhnt. Und doch markiert diese Nacht eine Zäsur. So defizitär die türkische Demokratie in den letzten Jahren – und auch schon vor Erdogan – war, so sehr Erdogan keine unfairen Mittel bis zur Annullierung von Ergebnissen gescheut hat, in den frühen Morgenstunden des 23. März 2025 hat sie ihren Todesstoß erlebt.

Wo die Opposition nicht länger den Spitzenkandidaten ihrer Wahl nominieren kann, existiert keine „gelenkte Demokratie“, sondern gar keine. Erdogans Autokratie ist in eine Diktatur gekippt. Ein Staatsstreich in zivil, der keinen Machtwechsel herbeiführen, sondern dauerhaft verhindern soll.

Die Studentenproteste der vergangenen Tage, die Hunderttausenden Menschen, die sich am Samstagabend vor dem Istanbuler Rathaus versammelt haben, die Demonstrationen an anderen Stellen der Stadt und im ganzen Land: so großen Protest hat die Türkei lange nicht mehr erlebt. Angesichts des Demonstrationsverbots erforderte es Mut, auf die Straße zu gehen. Aber die Proteste haben nicht ausgereicht, um Erdogan aufzuhalten. Der verhaltene Widerspruch aus Europa, die erklärte Nichteinstimmung aus Washington taten ihr Übriges.

Am Sonntag hätte Imamoglu Präsidentschaftskandidat werden sollen

Die Türkei steht am Anfang eines düsteren Kapitels, dessen Fortgang absehbar ist: Erdogan wird versuchen, diese Protestwelle niederknüppeln zu lassen und alles und jeden einzuschüchtern. Schon in der Nacht auf Sonntag warnte der Chef der staatlichen Medienaufsicht die verbliebenen unabhängigen Medien vor „unwahrer und parteiischer Berichterstattung“ und drohte mit Strafen bis zum Lizenzentzug. Am Freitag erklärte ein Gericht den Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer, die in der Türkei eine wichtige Rolle als Menschenrechtsorganisation einnimmt, für abgesetzt. Und bereits vor einigen Wochen wurden die Vorsitzenden des Unternehmerverbands festgenommen – eine unmissverständliche Warnung.

Am Sonntag wollte die CHP per Mitgliederabstimmung Imamoglu zum Präsidentschaftskandidaten küren – der Grund, weshalb Erdogan seine Häscher in der Justiz jetzt, drei Jahre vor dem nächsten Wahltermin, losgeschickt hat. Trotz des Hafturteils will die CHP an der Abstimmung an den landesweit 5600 Wahlurnen festhalten. Es wäre eine starke Demonstration – sofern Erdogan nicht seine Privatarmee in Polizeiuniform anrücken lässt.

Vergangene Woche hat die Zentralbank mindestens zehn Milliarden US-Dollar auf den Markt geworfen, um die türkische Lira vor noch stärkeren Turbulenzen zu bewahren. Der politischen Krise wird eine wirtschaftliche folgen. Oder genauer: die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise verschärfen.

Ebenfalls absehbar: Die Istanbuler Stadtverwaltung dürfte unter staatliche Zwangsverwaltung kommen, so wie das man seit Jahren in den kurdischen Gebieten gegen gewählte Bürgermeister vorgeht. Sogar die CHP, die Partei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, könnte unter Zwangsaufsicht gestellt werden. Man darf die kriminelle Fantasie des Erdogan-Regimes nicht unterschätzen – und nicht seine Möglichkeiten, diese Fantasien Realität werden zu lassen.

Und schließlich: Ekrem Imamoglu dürfte auf lange Zeit hinter Gittern verschwinden. Erdogans Rachsucht darf man nicht unterschätzen. Der kurdische Politiker Selahattin Demirtas sitzt seit achteinhalb Jahren in Haft, im westtürkischen Edirne, 1600 Kilometer von seiner Heimatstadt Diyarbakir entfernt, um seine Familie zusätzlich zu schikanieren. Doch was Erdogan nicht gelungen ist: Demirtas dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Trotz der vielen Jahre in Haft zählt er weiterhin zu den wichtigsten Akteuren der türkischen Politik – auch dank seiner Frau Basak Demirtas. Eine ähnliche Rolle könnte nun Imamoglus Frau Dilek übernehmen.

Erdogan mag Genugtuung empfinden, seine schier grenzenlose Macht gezeigt zu haben. Aber der Putsch vom 23. März 2025 markiert auch für ihn eine Zäsur. Er legitimierte seine Macht stets aus Wahlen, geflissentlich unterschlagend, dass diese schon lange keine fairen und gleichen mehr waren. Aber bislang konnte er behaupten, sich gegen jeden Kontrahenten durchgesetzt zu haben. Indem er seinen Herausforderer kaltstellt, entzieht er sich selbst der Legitimation. Ohne Legitimation aber kann sich auf Dauer keine Herrschaft halten. Nicht mal eine diktatorische.

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