Wie soll die nächste Bundesregierung mit der Türkei umgehen? "Die Vergangenheit hat gezeigt, dass man von der türkischen Regierung eher eine Gegenreaktion erhält, wenn man sie öffentlich angreift", sagt Türkei-Expertin Ellinor Zeino von der Konrad-Adenauer-Stiftung. "Für die aktuell inhaftierten Menschen ist es eventuell hilfreicher, hinter verschlossenen Türen zu sprechen."

ntv.de: Die CHP hat zum Boykott von regierungsnahen Unternehmen in der Türkei aufgerufen. Ist das ein Ausdruck von Hilflosigkeit oder kann das echte Folgen haben?

Ellinor Zeino: Das ist eine ziemlich groß angelegte Aktion und kann den betroffenen Unternehmen wirklich schaden. Auf der Liste der CHP stehen einige in der Türkei sehr bekannte Firmen, auch Medienhäuser. Wenn viele Türken sich an den Aufruf halten, wird das dort sicher spürbar sein. Diese Befürchtung scheint es jedenfalls zu geben, denn manche Regierungspolitiker sollen nun demonstrativ diese Unternehmen besucht haben.

Erdoğan hat die Demonstrationen als "Show" bezeichnet, die irgendwann enden werde. Auch viele Experten vermuten, dass er die Proteste einfach aussitzen kann.

Im Moment ist es noch zu früh zu sagen, wie es weitergeht. Aber das Gefühl der letzten Tage ist, dass die Proteste sich weiter ausbreiten und auch eskalieren könnten. Man merkt es an der zunehmenden Polarisierung. Ich würde aktuell davon ausgehen, dass die Proteste noch eine Weile anhalten und die Lage komplexer wird, weil verschiedene Lager ihre jeweiligen Anhänger mobilisieren.

Wer trägt diese Proteste?

Insgesamt sind die Gruppen, die die Proteste tragen, sehr unterschiedlich, aber den Kern bilden landesweit vor allem junge Leute: Studenten der großen Universitäten, nicht nur in Ankara und Istanbul, sondern in vielen Städten. Istanbul ist allerdings ein Sonderfall, es ist das Epizentrum der Demonstrationen. Hier in Ankara ist es dagegen noch relativ ruhig. Hier spielt sich der Protest vor allem in den Unis und einzelnen Stadtvierteln ab.

Der Vorwurf des Terrorverdachts gegen Ekrem Imamoğlu ist mittlerweile fallengelassen worden. Wie ist das zu verstehen?

Aktuell wird gegen Imamoğlu nur noch wegen des Verdachts der Korruption ermittelt. Allerdings ist ihm das Universitätsdiplom aberkannt worden, was weiterhin heißt, dass er nicht als Präsidentschaftskandidat antreten kann. Vermutlich war die Beweislage bei den Terrorvorwürfen einfach zu dünn. Für ihn ergeben sich daraus Vorteile, denn bei Terrorverdacht kann eine Untersuchungshaft bis zu fünf Jahre dauern. Der zweite Unterschied: Heute wählt der CHP-dominierte Stadtrat von Istanbul einen vorübergehend amtierenden Oberbürgermeister. Hätte der Terrorvorwurf Bestand gehabt, hätte die Regierung einen Treuhänder einsetzen können. Für die CHP hat die Rücknahme des Terrorvorwurfs die Situation also etwas verbessert.

Für wie plausibel halten Sie den Korruptionsvorwurf?

Istanbul ist das Finanz- und Wirtschaftszentrum des Landes. Wer das Bürgermeisteramt innehat, kontrolliert einen großen Teil der finanziellen Ressourcen des Landes. Ein Korruptionsvorwurf ist da schnell erhoben, und die Justiz wird jetzt sicherlich sehr genau suchen, um irgendetwas zu finden.

Hat die CHP eine Alternative zu Imamoğlu? Etwa den Oberbürgermeister von Ankara?

Ja. Mansur Yavaş, der Oberbürgermeister von Ankara, wird immer noch als sehr starker möglicher Kandidat für die Präsidentschaftswahlen gehandelt. In einigen Umfragen lag er vorn. Sein Hintergrund ist stärker nationalistisch ausgerichtet, als dies bei Imamoğlu der Fall ist. Damit hätte er die Möglichkeit, auch Wählerschichten anzusprechen, die der Regierungskoalition aus AKP und der ultranationalistischen MHP nahestehen.

Besteht das Risiko, dass auch Yavaş festgenommen wird, wenn sich abzeichnet, dass er Präsidentschaftskandidat wird?

Es gibt schon seit einiger Zeit Stimmen, die es für möglich halten, dass Yavaş in den Fokus geraten könnte. Das kann man nicht ausschließen.

Die EU kritisiert die Türkei bislang nur verhalten für die Verhaftung von Imamoğlu. Was würden Sie der nächsten Bundesregierung raten, wie sollte sie sich positionieren?

Das ist eine schwierige Frage. Für die neue Bundesregierung wird es eine Balancepolitik sein. Denn man braucht die Türkei: Sie ist der zweitstärkste Nato-Partner. Sie ist jetzt noch wichtiger geworden, weil das größte Nato-Mitglied, die USA, kein verlässlicher Partner für Europa mehr ist. Als Sicherheitspartner für Europa ist die Türkei damit umso wichtiger. Von der türkischen Regierung wird dies derzeit regelmäßig betont.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass man von der türkischen Regierung eher eine Gegenreaktion erhält, wenn man sie öffentlich angreift. Für die aktuell inhaftierten Menschen ist es eventuell hilfreicher, hinter verschlossenen Türen zu sprechen.

Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden seit Beginn der Proteste mehr als 1400 Menschen festgenommen, knapp 1000 sind noch in Gewahrsam. Kann man sich da wirklich darauf beschränken, Kritik hinter verschlossenen Türen zu üben?

Ich glaube, man muss eine Balance finden, weiter beobachten und die Lage immer wieder neu evaluieren. Eine einfache Lösung gibt es hier nicht. Es wird eine schwierige Aufgabe für die neue Bundesregierung sein, hier einen richtigen Weg zu finden.

Wie könnten Deutschland und Europa Druck, und sei es diskreter Art, auf die Türkei ausüben?

Zum einen sind wir der wichtigste Wirtschaftspartner für die Türkei. Ein wichtiger Punkt sind dabei Rüstungsexporte. Bundeskanzler Scholz hat erst Ende letzten Jahres die Lieferung von Eurofighter-Kampfflugzeugen an die Türkei in Aussicht gestellt. Zugleich will die Türkei auch selbst Rüstungsgüter exportieren.

In Deutschland denkt man beim Stichwort Türkei vor allem an das EU-Türkei-Abkommen, das zwischen 2016 und 2020 dafür sorgte, dass weniger Flüchtlinge über die Türkei in die EU kamen. Ist eine Neuauflage aktuell denkbar?

Konkrete gemeinsame Pläne gibt es meines Wissens nicht. Aber man hat natürlich gemerkt, dass viele europäische und auch deutsche Diplomaten nach Ankara gekommen sind, auch Außenministerin Baerbock, als in Syrien der Machtwechsel stattfand. Da gab es sicherlich auch den Hintergedanken, dass man irgendwann Migranten und Geflüchtete zurückführen möchte. Das ist ein gemeinsames Interesse - sowohl die Türkei als auch Deutschland und Europa möchten das. Aktuell sehe ich dafür allerdings keine konkreten Ansätze, weil die Lage in Syrien noch völlig offen ist.

Mit Ellinor Zeino sprach Hubertus Volmer

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