Shlomit Levinson sitzt im Deutschen Bundestag, ihre Stimme zittert. Es ist noch früh am Mittwochmorgen, einige Bundestagsabgeordnete sitzen vor der 48-Jährigen und ihrem Mann Kochav. Die Eltern berichten von ihrem Sohn Shay, der nicht mehr am Leben ist. „Shay war Deutscher, wie ich, wie du“, sagt sie, ihre geröteten Augen suchen Blickkontakt mit den Abgeordneten, „wie du, wie du.“

Shay Levinson wurde am 7. Oktober 2023 durch Hamas-Terroristen nahe dem Gaza-Streifen getötet. Der damals 19-Jährige war als Panzersoldat in einem kleinen Außenposten der israelischen Armee zwischen den Kibbutzim Be’eri und Re’im stationiert. Seine Aufgabe: die Grenze schützen.

Als am frühen Morgen Tausende palästinensische Terroristen in Israel einfielen, mehr als 1200 Israelis bestialisch ermordeten und ihre Taten live im Internet feierten, stellte sich der junge Soldat dagegen. Die wöchentlichen Ausschreitungen an der Grenzanlage kannte er, doch dieser Überfall traf die Israelis völlig unvorbereitet. In einem Panzer fuhr Levinson dem Mob entgegen, schoss auf die Terroristen, hielt wohl einige auf. „Er war ein Held“, sagt die Mutter des Deutsch-Israelis heute.

Der Panzer wurde von einer Rakete getroffen. Levinson und seine Mitstreiter erreichten noch das Nova-Musikfestival, dort wurde der junge Mann erschossen. Die Terroristen entführten 251 Menschen nach Gaza, auch Shay Levinsons Leiche.

Shlomit und Kochav sind nach Deutschland gekommen, weil sie sich Unterstützung bei der Befreiung der Geiseln erhoffen. Shay Levinsons Urgroßeltern flohen in den 1930er Jahren aus Nazi-Deutschland. Unter den verbliebenen 59 Geiseln sind einige deutsche Staatsangehörige. Der Zentralrat der Juden zeigte sich zuletzt enttäuscht vom Vorgehen der Bundesregierung für deren Freilassung. Das Auswärtige Amt habe sich öffentlich „vornehm zurückgehalten, um vermeintliche Verhandlungspartner nicht zu verprellen“, kritisierte Zentralratspräsident Josef Schuster im „Tagesspiegel“.

Bereits zum dritten Mal seit dem Terrorangriff ist die Familie Levinson nun nach Berlin gekommen. Reisen voller Schmerz, getrieben von Hoffnung. Sie trafen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagsabgeordnete von Union, SPD und Grünen, in Jerusalem zuvor auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Mit den deutschen Behörden stünden sie in gutem Austausch. „In schweren Zeiten merkst du, wer deine Freunde sind“, sagt Shlomit Levinson. Die Unterstützung aus Deutschland berühre und freue sie.

Die Bundesregierung setze allerdings auf ruhige, höfliche Diplomatie, nicht auf öffentlichen Druck. Doch ihr Sohn ist immer noch in Gaza, in den Händen der Hamas. „Wenn du mit Politikern sprichst, bekommst du eine Umarmung und ein Lächeln“, sagt Kochav Levinson. „Das reicht nicht mehr. Wir brauchen Handeln.“

„Wir leben in einer Schleife“

Shay Levinson wuchs mit seinen Eltern, seiner Schwester Mika und seinem Bruder Ben in Giv‘at Avni auf, einem Dorf unweit des See Genezareth im Norden Israels. Als erster jüdischer Sportler spielte er im benachbarten, vor allem von arabischen Christen bewohnten Eilabun in einem Volleyball-Team. „Seit ich dabei bin, fühle ich mich zu Hause. Ich fühle mich als Teil von ihnen“, sagte er im Alter von 17 über seine Mannschaft in einem Kurzfilm, den Freunde über ihn gedreht haben.

Levinson lernte Arabisch, kämpfte für die friedliche Koexistenz von arabischen und jüdischen Israelis, kritisierte Rassismus. „Er war ein Friedensaktivist“, sagt Shlomit Levinson heute. „Die falsche Person am falschen Ort zur falschen Zeit.“ Ihr Sohn habe auf ein besseres Israel gehofft, an das Land geglaubt, sein Land auch als Soldat verteidigen wollen. In Israel ist der Militärdienst für alle jüdischen Bürgerinnen und Bürger verpflichtend. „Shay bedeutet Geschenk auf Hebräisch“, sagt die Mutter. „Ein Geschenk, das die Welt verloren hat.“

Lange Zeit lebte die Familie in völliger Ungewissheit über den Verbleib ihres geliebten Sohnes und Bruders. Nach dem Schrecken des 7. Oktobers fehlte zunächst jedes Lebenszeichen. Im Januar 2024, nach mehr als drei Monaten, informierte sie das Militär über den Tod. „Wir leben in einer Schleife“, sagt Kochav Levinson über die Zeit danach. Das Leben sei stehen geblieben. Und nichts wie vorher.

Eine Beerdigung, ein Abschied, bleibt ihnen verwehrt. Zur Schiv‘a – der jüdischen Woche des Trauerns nach dem Tod – sei das ganze Volleyball-Team sowie Bewohner und Offizielle des arabischen Nachbardorfs zu Familie Levinson gekommen. „Es war wundervoll“, sagt Kochav Levinson. „Man sah, wer einen Unterschied macht.“ Sie alle trauerten gemeinsam.

Shay Levinson verdiene eine Beerdigung, betont seine Mutter. „Ich hatte keine Chance, ihm ‚Auf Wiedersehen‘ zu sagen.“

Ob die verbliebenen 59 Geiseln in den Händen der Hamas noch freikommen, ist derzeit völlig offen. Die Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Hamas stocken. Im zurückliegenden Waffenstillstand wurden 30 lebende israelische Geiseln freigelassen sowie die Leichname von acht Ermordeten übergeben. Israel ließ im Gegenzug fast 2000 palästinensische Gefangene frei, unter ihnen auch verurteilte Terroristen.

Nun hat das israelische Militär die massiven Angriffe auf den Gaza-Streifen wieder aufgenommen, Hunderte Palästinenser sollen in wenigen Tagen ihr Leben verloren haben. Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza sollen über 50.000 Menschen im Verlauf des Krieges getötet worden sein.

Viel Zeit bleibt den israelischen Geiseln indes nicht mehr: 24 von ihnen sollen noch am Leben sein. Ihr Gesundheitszustand ist durch Unterernährung, Schläge und Folter laut freigelassenen Geiseln teils dramatisch schlecht. Der Pianist Alon Ohel etwa soll zunehmend sein Augenlicht verlieren, er werde an einer Metallkette an den Beinen in Tunneln weit unter der Erde festgehalten, berichteten ehemalige Mitgeiseln.

Raz und Ohad Ben Ami berichten in Berlin vom Schrecken in Gaza. Das Ehepaar wurde aus dem Kibbutz Be’eri nahe dem Gaza-Streifen von Terroristen entführt. Raz Ben Ami kam im Zuge eines Geiseldeals im November 2023 frei – und kämpfte danach für die Freilassung ihres Mannes, die im Februar 2025 gelang. Ohad Ben Ami verbrachte den Großteil der 491 Tage in Gaza in den Tunneln der Hamas. „Kein Licht, keine Vögel, keine Blumen. Nur Beton“, beschreibt er in Berlin seinen Alltag in Gaza.

Selten habe er sich waschen können, Essen und Wasser habe es kaum gegeben. Sanitäter des Roten Kreuz habe er nicht ein einziges Mal gesehen, kritisierte er. Ben Ami kehrte stark unterernährt und abgemagert nach Israel zurück. „Ich sage Ihnen: Das ist die Hölle“, sagt er den Bundestagsabgeordneten am Mittwoch.

Ohne die fünf jungen Israelis, mit denen er unter der Erde gefangen gehalten wurde, fühle er sich nicht komplett. Sie seien zu seiner Familie geworden, berichtet er. „Ich bin hier, um Ihnen zu sagen: Es ist keine Zeit mehr.“ In einem offenen Brief warfen Raz und Ohad Ben Ami sowie 38 weitere ehemalige Geiseln der israelischen Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vor, einen „endlosen Krieg über die Rettung und Rückkehr der Geiseln“ zu stellen. Und: Befreie sie die Geiseln nicht, klebe Blut an ihren Händen.

Erst wenn alle Geiseln zurück seien, sagt Shlomit Levinson, bestehe die Möglichkeit für Israel zu heilen. Die Zukunft des Landes, eine mögliche Zwei-Staaten-Lösung, all das sei weit weg. „Die Tür ist verschlossen, und wir sind der Schlüssel“, sagt Kochav Levinson. Eine Zukunft für Israelis wie Palästinenser könne es nur ohne die Hamas geben, ohne den Terror.

Jeder Deutsche müsse verstehen, dass die Erlebnisse von Shay Levinson jeden Deutschen angehen. „Der Terror ist schon in Europa, der Terror ist in Deutschland“, betont Shlomit Levinson. „Heute ist es unsere Geschichte, aber es könnte eure Geschichte sein. Ihr seid die Nächsten.“

Politikredakteur Kevin Culina ist bei WELT zuständig für die Berichterstattung über das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Linkspartei. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus und jüdisches Leben und traf mehrfach Angehörige israelischer Geiseln.

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