Wir leben in einem populistischen Sturm, in dessen Auge steht die Justiz. Sie muss nun klären: Was heißt "im Namen des Volkes", wenn "das Volk" nach rechts rückt?
Als ein französisches Gericht die Politikerin Marine Le Pen vom Rassemblement National wegen Veruntreuung von EU-Geldern verurteilte, schaute die ganze Welt vom Schoko-Croissant auf. Denn damit ist die Herausforderin von Emmanuel Macron womöglich aus dem Rennen genommen - darf das sein?
Es war erwartbar, dass rechtspopulistische Stimmen wie Elon Musk diese Entscheidung als Attacke einer linkspolitisierten Justiz einordnen würden. Was überraschte: Manche linke Stimme, wie die des "Zeit"-Redakteurs Bernd Ulrich, machte genau dasselbe. "Ich halte das wirklich für eine dramatische politische Fehlentscheidung", postete der eigentlich für knüppelharten Klimaaktivismus bekannte Journalist auf X. Kann die Justiz es denn niemandem mehr recht machen?
Es ist kein Einzelfall: Die Justiz rückt zentimeterweise in den Generalverdacht der Unzufriedenen. Allein in den vergangenen Wochen hagelte es Vorwürfe gegen Richterinnen und Richter. Liberalkonservative Stimmen erhitzten sich darüber, dass Karlsruhe den Solidaritätszuschlag billigte. Das wurde nicht hingenommen als politische Hausaufgabe für eine Regierung Merz - sondern als weiteren Schlag eines linksmittigen Merkel-Staates.
"Je suis Marine!"
Unmittelbar zuvor hatten Bundesverfassungsgericht und fünf der Landesverfassungsgerichte im Land einen staatspolitischen Salto Mortale in Berlin durchgewunken, nämlich dass der alte Bundestag im Limbo des Legislaturwechsels noch schnell ein Schuldenpaket bereitstellt. Damit wollte man die AfD ausbooten, die Linken aber auch, denn beide haben künftig eine Sperrminorität.
Die AfD hackt ohnehin auf Karlsruhe herum, jedenfalls, wenn ihre Vertreter einmal nicht durchdringen. Dann sind es die Altparteien, die sich Karlsruhe "zur Beute" gemacht haben, in Corona-Zeiten war es sogar nur "verlängerter Arm der Regierung", dann wieder "Regierungsschützer" und so weiter.
Die Delegitimierung der Justiz ist eine rechtsextreme Methode. In den Vereinigten Staaten beansprucht Donald Trump diktatorische Durchgriffsrechte, Richter werden bedroht und attackiert, der Judikative abgesprochen, Korrektiv der Exekutive zu sein. Der amerikanische Rechtsstaat steht offenbar vor dem Kollaps.
Doch auch die internationale Justiz in Gestalt des Völkerrechts gerät ins Wanken: Im Streit um eine mögliche Verhaftung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahus hat Ungarn gerade die Mitgliedschaft beim Internationalen Gerichtshof aufgekündigt. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban war es auch, der zuvor pathetisch das Le Pen-Urteil kommentierte, mit "Je suis Marine!", in Anlehnung an "Je suis Charlie" nach der Ermordung französischer Satiriker von Charlie Hebdo. Geschmackvoll!
Die Justiz wird politischer
Die Justiz steht im Sturm. Es ist verblüffend, dass vor allem linke Stimmen die Gerichte noch weiter in die Auseinandersetzung pressen wollen, indem sie von ihr die Entscheidung gesellschaftlicher Machtfragen verlangen. AfD-Politiker sollen nach dem Willen der Koalierenden ebenso wie Le Pen ihr passives Wahlrecht verlieren, wenn sie mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilt wurden. Das Strafrecht soll gegen "Hass und Hetze" helfen, was immer das ist. Die AfD soll man verbieten, wer daran Zweifel hegt, ist ebenfalls rechtsextrem.
All diese Versuche machen die Justiz mächtiger und politischer. Das ist eine fatale Tendenz und wirft die Frage auf, was eigentlich mit dieser Macht passiert, wenn sie in falsche Hände gerät. In Thüringen wird künftig ein AfD-Politiker stellvertretender Richter am Landesverfassungsgericht. Womöglich wäre etwas juristische Hygiene angebracht.
Wir leben nämlich im populistischen Zeitalter, bis auf weiteres. Die Zeit wird sich nicht zurückdrehen lassen auf die seligen Neunziger, selbst wenn der Zugang zu sozialen Medien einem internationalen Handelskrieg zum Opfer fallen würde. Die Justiz muss dringend einen konsistenten Umgang finden mit Populisten und den Mechanismen der Mediengegenwart.
"Im Namen des Volkes"?
Gerichte sprechen im buchstäblichen Sinne "im Namen des Volkes" - das macht sie zu einer Projektionsfläche für Populisten, die an "vox populi, vox dei" glauben, also daran, dass "das Volk", wie auch immer man das ermittelt, am Ende das Sagen haben soll.
Eine erste Maßnahme wäre, wenn alle Gerichte sich um klares Deutsch bemühen würden, insbesondere jene mit viel Kontakt zum "Volk", also Sozial- und Arbeitsgerichte etwa. Die klirrkalt-arrogante Verwaltungssprache, mit der dort den Rechtssuchenden bisweilen die Gesetzeslage vor die Füße gehustet wird, erwärmt nicht grad die Bürgerherzen für staatliche Institutionen.
Ebenfalls eine gute Idee: Auf besonders angreifbare und juristisch kaum begründbare Kuscheleien zu verzichten. Wenn etwa in einer Pandemie die Freiheit in die Knie gezwungen wird, ist es eine galaktisch empathielose Idee, als Bundeskanzlerin die Bundesverfassungsrichter zum Dinner einzuladen. Dieselbe Empathielosigkeit wie Angela Merkel legte das Bundesverfassungsgericht an den Tag, als es sich kurz darauf von der "Bild" im Klagewege zur Preisgabe näherer Informationen über dieses Dinner zwingen ließ.
Der Knicks darf nicht zum Kotau werden
Das Zauberwort lautet: strategisches Fingerspitzengefühl. Das ist leider nichts, was an juristischen Fakultäten gelehrt wird. Im Fall Le Pen hat die Justiz den Sturm der populistischen Entrüstung offenbar durchaus wahrgenommen: Eilig versprach das Berufungsgericht, es werde vor dem Jahr 2027 entscheiden - damit Le Pen noch eine Chance auf die Präsidentschaft hat. Das ist noch kein Kniefall vor den Populisten, nur ein kleiner Knicks. Und es ist eine gute Idee.
Aus dem Knicks darf allerdings kein Kotau werden, wie ihn manche Stimmen im Fall Le Pen verlangten. Soll man bei einer besonders lauten und erfolgreichen Straftäterin ein Auge zudrücken, damit "das Volk" nicht wütend wird?
Das wäre der Anfang vom Ende des Rechtsstaats und kaum wieder umzukehren. Wenn ein Gericht anders entscheidet, um ein Zeichen der Fairness gegenüber sehr rechten Parteien zu senden, ist das Recht korrumpiert. PR-Strategen und politische Kampagneros dürfen keinen Finger auf Justitias Waage legen.
Es ist etwas beunruhigend, dass man das nicht nur gegenüber Rechtspopulisten, sondern auch gegenüber der gediegenen "Zeit" festhalten muss.
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