Ein Paukenschlag aus Brüssel: Deutschland ist mit Blick auf die Asylanträge erstmals seit Jahren nicht mehr Spitzenreiter in der Europäischen Union. Laut einem vertraulichen Bericht der EU-Kommission, der WELT AM SONNTAG vorliegt, ist die Zahl der Anträge im ersten Quartal dieses Jahres (1. Januar bis 31. März) hierzulande im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 41 Prozent zurückgegangen auf 37.387. Spitzenreiter ist neuerdings Frankreich mit 40.871 Asylanträgen, gefolgt von Spanien, wo 39.318 Personen einen Antrag auf Schutz gestellt haben. Deutschland folgt erst auf Rang drei.
Schlusslichter sind Ungarn (22 Anträge) und die Slowakei (37). Beide Staaten verfolgen einen besonders harten Kurs in der Migrationspolitik. Laut der im Bericht veröffentlichten Zahlen stellten in den ersten drei Monaten dieses Jahres 210.641 Personen einen Asylantrag in der EU sowie Norwegen und der Schweiz – ein Minus von 19 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum des Vorjahres.
Die meisten Asylantragsteller kamen im ersten Quartal aus Venezuela (25.375), gefolgt von Afghanistan (21.524) und Syrien (15.138). Bemerkenswert: Die Zahl der Asylanträge von Venezolanern stieg um 44 Prozent. Auch die Schutzanträge von Ukrainern (plus 84 Prozent), Chinesen (+87 Prozent) und Indern (+56 Prozent) stiegen stark an.
Demgegenüber beantragten Personen aus Syrien (minus 56 Prozent), Kolumbien (-45 Prozent) und der Türkei (-44 Prozent) deutlich weniger Asyl. Was Deutschland angeht, so wird mehr als jeder zweite Asylantrag von Syrern in der EU in Deutschland gestellt. Ein Viertel aller Schutzanträge kam hierzulande von Syrern, gefolgt von Afghanen (16 Prozent) und Türken (11 Prozent). Frankreich ist unterdessen zum Zielland Nummer eins für Ukrainer geworden.
„Volatile Lage im Nahen Osten“ besorgt die EU
Besorgt zeigt sich die EU-Kommission nach der Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu über die Entwicklung in der Türkei: „Politische Verfolgung und ökonomischer Niedergang gehören zu den Hauptgründen, die Türken zur Migration bewegen. Eine Eskalation der Lage könnte zu steigenden Asylanträgen und/oder Anerkennungsraten in der EU führen.“
Kritisch sieht die Kommissionsbehörde in ihrem vertraulichen Bericht auch die „volatile Lage im Nahen Osten und ihren Einfluss auf die Migration in die EU“. Insbesondere die Ausschreitungen in Syrien zwischen mutmaßlichen alevitischen Anhängern des früheren Diktators Baschar al-Assad und Vertretern der neuen Regierung im Raum Latakia, Tartus und Homs bereiten der EU-Kommission Sorge.
Hinzu käme, dass die syrische Küstenwache nach dem Fall des Assad-Regimes geschwächt sei und ihre Ausrüstung, etwa Boote und Scheinwerfer, teilweise zerstört wurde. Schließlich könnten sich in Kürze auch die Schlepper-Netzwerke wieder reorganisieren. Sie waren nach Assads Sturz teils zerfallen, schreiben die Experten der EU-Kommission.
Die EU unternimmt mit der im Frühsommer des vergangenen Jahres verabschiedeten Reform der Asyl- und Migrationspolitik große Anstrengungen, um illegale Einreisen einzudämmen. Die Maßnahmen sollen spätestens im Juni 2026 in Kraft treten. Ob dies gelingen wird, ist offen.
Probleme sind absehbar: etwa bei den Turbo-Grenzverfahren für Migranten aus Ländern mit Anerkennungsquoten unter 20 Prozent, eine die geringe Aussicht auf Schutz haben. Ungarn beispielsweise soll im ersten Jahr knapp 8500 von insgesamt 30.000 Plätzen in bewachten und geschlossenen Einrichtungen an den Außengrenzen zur Verfügung stellen.
Europaminister Janos Boka sagte dazu WELT AM SONNTAG: „Wir werden das auf keinen Fall tun. Das Mandat, das die Wähler der ungarischen Regierung gegeben haben, ist klar: Sie wollen keine Migrantenlager in Ungarn sehen. Und darum werden wir sie auch gar nicht erst errichten. Das ist ein eindeutiger Wählerauftrag.“
Ein weiteres Problem stellt das neue Ein- und Ausreisesystem EES (Entry-Exit-System) dar, das Grenzkontrollverfahren automatisieren soll. Die elektronische Erfassung von Ein- und Ausreisen betrifft alle Drittstaatsangehörigen ohne einen Aufenthaltstitel, die in den EU-Schengen-Raum einreisen. 24 EU-Länder und vier Drittstaaten (Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island) nehmen daran teil.
Das neue Kontrollsystem sollte eigentlich schon im vergangenen Jahr eingesetzt werden. Wegen zahlreicher IT-Probleme wird EES nun aber erst im Oktober starten und dann auch erst schrittweise eingeführt werden. Bis dahin müssen die meisten Pässe von Drittstaatenangehörigen weiter per Hand gestempelt werden.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.
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