Beim Thema Migration hatten die Union und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz im Wahlkampf höchste Erwartungen geweckt. Misst man ihn nach seinen vollmundigen Ankündigungen, ist das Glas halbleer. Ein Erfolg ist es aus CDU-Sicht trotzdem.
Für die Union war es im Wahlkampf eines der wichtigsten Themen. "Das Maß ist endgültig voll", sagte CDU-Chef Friedrich Merz im Januar, einen Monat vor der Bundestagswahl. "Wir stehen vor dem Scherbenhaufen einer in Deutschland seit zehn Jahren fehlgeleiteten Asyl- und Einwanderungspolitik." In ihrem Wahlprogramm schrieb die Union, das Land brauche "eine grundsätzliche Wende in der Migrationspolitik".
Aus Sicht der Union ist genau das erreicht worden. "Wir werden einen neuen Kurs in der Migrationspolitik einschlagen", sagt Merz bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags im Paul-Löbe-Haus, einem Bürogebäude des Deutschen Bundestags mit großem Atrium. "Wir werden besser ordnen und steuern, und die irreguläre Migration weitgehend beenden." Später sagt Merz, die künftige Koalition wolle die irreguläre Migration "sehr weitgehend zurückdrängen, und das wird auch kurzfristig sichtbar werden".
Es werde Kontrollen an den Staatsgrenzen geben, zählt Merz auf, auch "Zurückweisungen gegenüber Asylgesuchen". Es werde eine Rückführungsoffensive geben, die freiwilligen Aufnahmeprogramme, etwa für ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan, würden beendet, der Familiennachzug ausgesetzt und die Zahl der sicheren Herkunftsstaaten "deutlich" vergrößert. Auch die von der Ampel eingeführte "Turbo-Einbürgerung" für besonders gut integrierte Zuwanderer nach drei Jahren soll abgeschafft werden.
Für Söder ist es "ein Zurück wie vor 2015"
Auffallend ist: Merz spricht zunächst über eine ganze Reihe anderer Themen - über Steuersenkungen und "Investitionsbooster", über die Reduzierung der Stromsteuer und die Einführung eines Industriestrompreises, bevor er zu dem Thema kommt, das im Wahlkampf noch so wichtig war. Die Reihenfolge spiegelt die Relevanz des Themas in der Bevölkerung: Das RTL/ntv-Trendbarometer hatte erst am Dienstag gezeigt, dass lediglich sieben Prozent der Deutschen Zuwanderung als wichtigstes Thema sehen.
Selbst in den ungewöhnlich langen Ausführungen von CSU-Chef Markus Söder ist es der letzte Punkt. "Ich bin beeindruckt, dass es uns gelungen ist, bei der Migration einen Richtungswechsel zu organisieren", sagt Söder. "Es ist wieder ein Zurück wie vor 2015", also in die Zeit vor der Flüchtlingskrise vor zehn Jahren. Für SPD-Chef Lars Klingbeil ist wichtig, dass die Migration geordnet und gesteuert werde, das Grundrecht auf Asyl aber "unantastbar" bleibe.
Weidel sieht "Fortführung der Merkel-Ära"
Aber haben Merz und Söder Recht? Gibt es einen Richtungswechsel, eine Migrationswende, einen neuen Kurs in der Migrationspolitik? Nein, sagt die AfD, wenig überraschend. Parteichefin Alice Weidel sprach in der ihr eigenen maximalen Eskalationsrhetorik von einer "Fortführung der Merkel-Ära", einer Fortsetzung "der Grenzöffnung" und auch der "Turbo-Einbürgerung", ganz so, als habe sie einen anderen Koalitionsvertrag durchgeblättert.
Messen lassen müssen sich Merz und die Union allerdings nicht an vorhersehbaren Reaktionen, sondern an ihren Wahlversprechen. Der künftigen Koalition dürfte helfen, dass die Zahlen längst sinken: im März gab es 20 Prozent weniger Asylanträge als im Februar. Bereits vor einer Woche verkündete die geschäftsführende Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die Zahl der Abschiebungen sei "enorm gestiegen" und die irreguläre Migration stark zurückgedrängt worden. Darauf kann ihr Nachfolger, vermutlich CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, aufbauen.
Der Fünfpunkte-Check
Im Wahlkampf hatte die Union angekündigt, "einen faktischen Aufnahmestopp sofort" durchzusetzen. Merz sagte, er werde "im Fall meiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen". Das klang nach Machtwort, es klang nach radikaler Migrationswende, und das sollte es auch.
Als Merz diese Sätze sagte, stellte er einen Fünfpunkteplan vor, den die Union Ende Januar als Entschließungsantrag in den Bundestag einbrachte. Der Plan wurde - anders als ein Gesetzentwurf der Union zwei Tage später - mit den Stimmen der AfD verabschiedet. Es war ein beispielloser Eklat, beides - auch die gescheiterte Abstimmung über das "Zustrombegrenzungsgesetz". SPD und Grüne warfen Merz einen Tabu- und Wortbruch vor.
Trotz dieses Streits haben es einige der fünf Punkte in den Koalitionsvertrag geschafft - teilweise in abgeschwächter Form:
- dauerhafte Kontrollen an allen deutschen Grenzen: Das war zwischen Union und SPD weitgehend unstrittig und findet sich auch so im Koalitionsvertrag.
- Zurückweisung "ausnahmslos aller Versuche illegaler Einreise" beziehungsweise ein "faktisches Einreiseverbot für Personen, die keine gültigen Einreisedokumente besitzen": Hier hat die SPD eine Abschwächung durchgesetzt. Es soll Zurückweisungen geben, aber nur "in Abstimmungen mit unseren europäischen Nachbarn", wie es bereits im Sondierungspapier hieß. Von "ausnahmslos allen Versuchen" ist im Koalitionsvertrag keine Rede. Auf Nachfrage sagte Merz, er stehe seit Wochen "mit den wichtigsten europäischen Partnern im engen Austausch". Die Abstimmung mit Polen und Frankreich laufe. "Wir sind im engen Dialog und werden das Problem gemeinsam lösen."
- die sofortige Inhaftierung von ausreisepflichtigen Personen: Ganz so drastisch, wie ursprünglich von der Union gefordert, klingt der Koalitionsvertrag bei diesem Thema nicht. Aber es sind durchaus entsprechende Maßnahmen geplant. So soll die Bundespolizei die Kompetenz erhalten, für ausreisepflichtige Ausländer "vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam" zu beantragen, um ihre Abschiebung sicherzustellen. Zudem sollen "alle Möglichkeiten" ausgeschöpft werden, "um die Kapazitäten für die Abschiebehaft deutlich zu erhöhen".
- mehr Unterstützung für die Länder bei Abschiebungen: Diese Forderung war nie strittig und findet sich auch so im Koalitionsvertrag. Strittig war die Schaffung von sogenannten Bundesausreisezentren. Ihre Einrichtung soll gemeinsam mit den Bundesländern geprüft werden.
- die Verschärfung des Aufenthaltsrechts für Straftäter und Gefährder: Auch hier gab es die entsprechende Einigung schon in den Sondierungsverhandlungen. Für ausreisepflichtige Gefährder und "Täter schwerer Straftaten" soll es nach der Haftverbüßung einen "dauerhaften Ausreisearrest" geben, bis sie freiwillig ausreisen oder abgeschoben werden. Und: "Die Möglichkeiten zur Aberkennung des Schutzstatus bei Straftätern wollen wir konsequenter anwenden." Auch darauf hatten Union und SPD sich schon in den Sondierungen verständigt.
Von Merz' fünf Punkten hat sich die neue Koalition demnach drei komplett und zwei in Teilen zu eigen gemacht. Abgelehnt wurde von der SPD die Forderung der Union, "sichere und rechtsstaatliche Asylverfahren in sicheren Drittstaaten" zu ermöglichen. Allerdings soll die Zahl der Rückführungen gesteigert werden. Dazu sollen "umfassende gesetzliche Regelungen" erarbeitet werden. Nicht strittig war zudem die Abschiebung nach Afghanistan und Syrien.
Erfolg ist immer relativ
Angesichts des Eklats, den das gemeinsame Abstimmungsverhalten der Unionsfraktion mit der AfD im Bundestag Ende Januar ausgelöst hatte, ist das Verhandlungsergebnis für Merz ein klarer Erfolg - dann ist das Glas deutlich mehr als halbvoll. Misst man Merz jedoch nach seinen Ankündigungen, ist das Glas maximal halb leer. Als er den Fünfpunkteplan vorstellte, sagte er, ihm sei "völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht". Er jedenfalls werde keinen anderen Weg gehen. "Wer ihn mit mir gehen will, muss sich nach diesen fünf Punkten richten. Kompromisse sind zu diesen Themen nicht mehr möglich."
Sollten die Anhänger und Mitglieder der Unionsparteien enttäuscht auf das Verhandlungsergebnis reagieren, so wäre dies vor allem Merz' ungewöhnlich schlechtem Erwartungsmanagement zuzuschreiben. Es ist ähnlich wie bei Schuldenbremse und Sondervermögen: Merz hatte etwas anderes angekündigt. In der Migrationspolitik hat Merz durchaus eine Menge durchgesetzt. Vollmundig angekündigt hatte er aber noch mehr. Allen Verhandlungserfolgen zum Trotz könnte ihm das auf die Füße fallen.
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