Ralf Stegner (SPD) ist seit 2021 Mitglied des Bundestags und dort Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und der Parlamentarischen Kontrollkommission. Der 65-Jährige gehört zum linken Flügel seiner Partei und wird auch dem künftigen Bundestag angehören.

WELT: Herr Stegner, nach der Einigung von Union und SPD über die Finanzierung der Verteidigungsausgaben und der Infrastruktur – sehen Sie noch inhaltliche Punkte, an denen die Bildung einer Koalition zwischen den beiden Parteien scheitern könnte?

Ralf Stegner: Verhandlungen müssen grundsätzlich so geführt werden, dass sie auch scheitern können. Sonst bekommt man kein gutes Ergebnis. Zudem sind die Reaktionen auf die Einigung im Finanzteil bei CDU und CSU wegen der 180-Grad-Wende von Friedrich Merz so heftig, dass die Neigung der Union groß sein könnte, im weiteren Verlauf der Verhandlungen Forderungen zu stellen, bei denen die SPD sagen muss: Sorry, nicht mit uns. Unser Ergebnis von 16 Prozent war miserabel, die Union hat aber auch nur 28 Prozent, und die SPD gibt es weder zu Discount-Preisen, noch werden wir Grundüberzeugungen aufgeben.

WELT: Beim Thema Migration hat Ihr Parteivorsitzender Lars Klingbeil bereits eine rote Linie gezogen – faktische Grenzschließungen werde es mit der SPD nicht geben. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) hat aber versprochen, die Grenzen dauerhaft zu kontrollieren und „ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise“ zurückzuweisen. Sehen Sie eine Kompromissmöglichkeit?

Stegner: Solche Grenzschließungen wären europarechtswidrig und hießen außerdem, dass Deutschland sich mit allen seinen Nachbarn anlegt. Und das ist in Zeiten, in denen Europa ganz besonders gemeinsam handeln muss. Im Übrigen weiß Friedrich Merz inzwischen auch, dass solche Versprechen – „Am ersten Tag meiner Amtsübernahme werde ich Kraft meiner Richtlinienkompetenz ...“ – vielleicht in der US-Präsidialdemokratie funktionieren. Aber nicht in Deutschland. Da war wohl ein bisschen viel Adrenalin im Spiel.

WELT: Wo könnte die SPD der Union beim Thema Migration entgegenkommen?

Stegner: Dass es bei der irregulären Migration Regelungsbedarf gibt, steht außer Frage. Man kann nicht die rosarote Brille aufsetzen und so tun, als gäbe es keine Probleme. Auf der anderen Seite wird es mit der SPD weder einen Schäbigkeitswettbewerb noch Inhumanität und auch keine Verfassungswidrigkeit geben.

WELT: Sondern?

Ralf Stegner: Pragmatismus. Bei Abweisung und Rückführung sollten wir uns auf diejenigen konzentrieren, die schon deshalb nicht bei uns bleiben können, weil sie schwere Straftaten verübt haben. Oder bei denen ohnehin feststeht, dass eine Prüfung des Asylantrags in einem anderen Land stattfinden beziehungsweise negativ ausgehen wird.

Und gegenüber den zuwandernden Menschen sollten wir endlich von dieser deutschen 100-Prozent-Gründlichkeit wegkommen und sie nicht weiter mit den wahnsinnig komplizierten Regeln unseres Ausländerrechts, wie zum Beispiel der Anerkennung von Berufsabschlüssen et cetera, schikanieren. Sondern sie einfach mal arbeiten lassen. Wir brauchen nämlich dringend Arbeitskräfte. Wenn wir außerdem das neue europäische Asylrecht umsetzen und den Populismus weglassen, werden Union und SPD auch zu einer Einigung kommen.

WELT: CDU und CSU haben ihren Wählern auch versprochen, die Sozialausgaben zu senken – zum Beispiel durch eine erneute Reform des Bürgergelds. Machen die SPD da mit?

Stegner: Gleiches Prinzip wie bei der Migration, weniger Populismus. Wir reden da über eine sehr kleine Zahl von Menschen, die nicht arbeiten wollen, obwohl sie das könnten. Ich finde auch, dass die das tun sollten – und wenn nicht, nur das vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Minimum erhalten.

Beim Großteil der Bürgergeld-Empfänger handelt es sich aber entweder um Aufstocker, deren Löhne schlicht zu niedrig sind. Also Mindestlohn rauf – noch besser Tariflöhne – und Schwarzarbeit bekämpfen! Es geht aber auch um Menschen, die arbeiten könnten, die wir aber nicht arbeiten lassen. Oder um ukrainische Flüchtlinge, die wir in das Bürgergeld-System übernommen haben, um unsere Kommunen zu entlasten. Wenn wir die Ukrainer da rausnehmen, würden sie unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen – dafür zahlen die Kommunen. Bürgergeld zahlt der Bund. Das ist der Unterschied.

WELT: Moritz Schularick, Chef des Kieler Weltwirtschafts-Instituts und einer der geistigen „Väter“ des milliardenschweren Finanzpakets von Union und SPD, hat die beiden Parteien ermahnt, nun aber auch die Staatsausgaben deutlich zu reduzieren. Als Beispiele nennt er das Elterngeld, die Pendlerpauschale und das Diesel-Privileg. Wo kürzen Sie?

Stegner: Wenn man so große Summen in einen vernünftigen, zukunftsträchtige, sozialverträglichen Umbau der Industriegesellschaft investiert, dann kann man an anderer Stelle auch Regelungen korrigieren, die vielleicht Mitnahmeeffekte erzeugen. Da sind die Stichworte, die Schularick nennt, Themen, über die man zumindest reden kann. Beispiel: Wenn man viel Geld in einen besseren öffentlichen Nahverkehr und auch das Deutschlandticket investiert, kann man bei der Entfernungspauschale eher etwas machen, als wenn man diese Investitionen nicht vornimmt.

WELT: Falls es zu konkreten Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD kommt – an welcher Stelle wollen Sie persönlich einen Schwerpunkt setzen?

Stegner: Wir als SPD werden darauf achten, dass unsere Sozialsysteme bei Arbeit, Miete, Rente, Gesundheit und Pflege nicht gefleddert werden. Wir werden nicht zulassen, dass eine Annäherung an die Rechtsradikalen erfolgt. Der Sündenfall im Deutschen Bundestag darf sich keinesfalls wiederholen. Und wir müssen auch dafür sorgen, dass wir nicht nur über Aufrüstung reden, sondern über Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und Frieden.

WELT: Sie selbst haben in der Vergangenheit immer wieder vor Aufrüstung und zu hohen Militärausgaben gewarnt. Wie schwer wird es Ihnen persönlich in der kommenden Woche fallen, für eine Grundgesetzänderung zu stimmen, die eine enorme Erhöhung der Verteidigungsausgaben ermöglicht?

Ralf Stegner: Ich halte diese Grundgesetzänderung für vernünftig. Sie sorgt nämlich zunächst einmal nur dafür, dass Militärausgaben nicht mehr gegen andere Ausgaben, zum Beispiel für die Sozialsysteme, ausgespielt werden. Wir waren immer dafür – alles andere nutzt nur den Populisten. Über die tatsächliche Höhe des Verteidigungshaushalts entscheidet weiterhin das Parlament. Der Bundestag wird dann allerdings nicht mehr durch die Verfassung daran gehindert, für die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit der Bundeswehr zu sorgen. Das finde ich richtig. Einen Aufruf zur Aufrüstung kann ich darin nicht erkennen. Das wäre auch der völlig falsche Weg.

Wir müssen uns verteidigen können, ja. Aber dass man mit immer mehr Waffen, im Zweifel sogar mit europäischen Atomwaffen – was für ein Wahnsinn! – mehr Sicherheit erreichen und dauerhaften Frieden schaffen könnte, halte ich für eine Illusion. Und ganz am Ende finanzieren wir mit Milliarden Euro die Beseitigung der Kriegsfolgen und den Wiederaufbau in der Ukraine, Gaza, Syrien und anderswo.

WELT: Eine Begründung für die nun anstehende enorme Ausweitung der Verteidigungsausgaben ist die Befürchtung, die USA könnten demnächst die Nato verlassen. Für wie realistisch halten Sie ein solches Szenario?

Stegner: Die Präsidentschaft von Donald Trump ist wirklich eine Rosskur für die USA und auch Europa. Aber: Die USA haben Interessen. Und dazu gehört mit Sicherheit nicht, einen immer noch sehr wirtschaftsstarken Kontinent wie Europa abzuschreiben und den Chinesen oder Russen zu überlassen. Daran ändert auch die Wahl Trumps zum Präsidenten nichts. Der ist in vier Jahren auch Geschichte. Und dass die USA in dieser Zeit aus der Nato herausgehen, ist noch lange nicht ausgemacht. Kompensieren könnte Europa einen solchen Ausstieg ohnehin nicht.

WELT: Was halten Sie von Trumps vorläufiger Aussetzung der Militärhilfe für die Ukraine?

Stegner: Das war doch absehbar. Trump verhält sich gegenüber der Ukraine extrem schäbig. Nach dem Motto: Ich mach einen Deal mit dem Diktator Putin, hole mir die Bodenschätze, das Land selbst ist mir schnurz, und die Pflichten übernehmen gefälligst die Europäer.

Trotzdem zeigt das Vorgehen des US-Präsidenten einmal mehr, dass Rolf Mützenich recht hatte mit seiner Einschätzung, dass man Putin nicht mit immer mehr Waffen an den Verhandlungstisch zwingen kann. Dass man stattdessen über einen Waffenstillstand reden muss, wie es jetzt auch Frankreich und Großbritannien vorschlagen. Rolf Mützenich wurde für den gleichlautenden Vorschlag wochenlang diffamiert.

WELT: Noch eine Frage zur Zukunft der SPD. Brauchen die Sozialdemokraten nach der Niederlage bei der Bundestagswahl beim Parteitag im Juni eine neue Führung?

Stegner: Ich halte nichts davon, Parteifreunde öffentlich anzugreifen. Wir werden sehr ernsthaft über die vielen Wahlniederlagen reden müssen, die wir eingesteckt haben. Ein Weiter-so kann nicht die richtige Lösung sein, wenn die SPD hinter den Rechtsradikalen auf Platz drei landet. Wir haben ihnen das Thema Migration kampflos überlassen und sind in Sache und Ton den Populisten hinterhergelaufen, statt konsequent auf unsere sozialen Kernthemen zu setzen. Und gleichzeitig hat die Linkspartei gepunktet, weil wir das Friedensthema vernachlässigt haben.

Es gibt also schon Anlass für Konsequenzen. Alles auf den Bundeskanzler zu schieben, hielte ich jedenfalls für verfehlt. Olaf Scholz hat sicherlich nicht alles richtig gemacht, aber er hat insgesamt das Land besonnen und vernünftig durch die großen Krisen der vergangenen Jahre gesteuert. Für Führung und Orientierung war er nicht allein zuständig.

Korrespondent Ulrich Exner berichtet vor allem aus den norddeutschen Bundesländern.

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