Atallah Y. sitzt in einem prunkvollen Gerichtssaal und legt die Stirn auf den Holztisch, atmet gelöst aus. Gut drei Monate, nachdem er als Tourist die Silvesternacht in Berlin gefeiert hatte, wird der 23-jährige Palästinenser an diesem Mittwoch die Untersuchungshaft verlassen. Damals schoss er eine Silvesterrakete in ein Berliner Mehrfamilienhaus, sie explodierte in einem Schlafzimmer.
An diesem Mittwochmittag im April tritt Y. nun aus dem Gerichtsaal und lächelt. „Ich vermisse meine Familie sehr“, sagt er auf Englisch, umringt von einem Pulk von Journalisten. Neben ihm steht der Verteidiger Axel Czapp, Y. sieht müde aus, hat Augenringe. Die Zeit in Haft, sagt der junge Mann, sei sehr schwer für ihn gewesen. „Es ist eine harte Zeit, wenn du …“, die Stimme bricht, „viele Dinge zwischen dir und deiner Familie hast.“
Der in Nablus geborene Influencer und Student wurde zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt – wegen Sachbeschädigung.
Klar wurde im Prozess: Y. nahm am Silvester-Abend eine Rakete in die Hand, zündete sie an und richtete sie auf ein Wohnhaus. Er hielt die Holzstange kurz, die Rakete zischte aus seiner Hand – und durchschlug ein doppelt verglastes Fenster einer Wohnung. Im dortigen Schlafzimmer explodierte das Feuerwerk, Funken und Rauch füllten den Raum. Y. und seine Begleiter rannten weg.
Der Fall löste heftige Empörung aus – weit über die Hauptstadt hinaus. Alljährlich verletzen sich Menschen selbst oder gegenseitig in der Silvesternacht, insbesondere durch einen falschen und gefährlichen Umgang mit Feuerwerk. Gerade in Berlin kommt es teils zu heftigen Krawallen. Doch besonders an diesem Fall war: Y. ist ein Influencer, seine Tat verbreitete er in einem millionenfach gesehenen Video in den sozialen Netzwerken. Y. reiste als Tourist nach Deutschland ein, besuchte München, feierte Silvester in Berlin. Kurz vor seiner Abreise nach Jordanien verhaftete die Polizei ihn am Flughafen.
Nun musste er sich in einem viel beachteten Prozess vor dem Landgericht wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, versuchter gefährlicher Brandstiftung und Sachbeschädigung verantworten.
Vor Gericht bat der Angeklagte um Entschuldigung, die Tat sei keine Absicht und ein Fehler gewesen. „Das war eine große Lehre für mich“, sagt er am Mittwoch, dem dritten und letzten Prozesstag.
Das Gericht sieht einzig die Sachbeschädigung als belegt an – und verwirft die beiden anderen Anklagepunkte. Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung leide unter solchen Taten, erklärt Richter Raphael Neef zu den Folgen der Tat. Der Abschuss der Rakete auf das Haus sei „fern jeder Verantwortung“ gewesen, auch das Hochladen des Tatvideos spreche gegen den Angeklagten.
Doch Y. sei zuvor in seinem Leben nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der Mann habe sich entschuldigt, er habe seine Tat gestanden und Wiedergutmachung bei den Betroffenen angeboten. Zudem habe er ohne Deutschkenntnisse mehr als drei Monate in Haft verbracht, sei also „besonders haftempfindlich“.
Der Angeklagte kenne die Gebäudestrukturen und die Fenster in Berlin nicht. Eine Fensterscheibe sei ein „nahezu perfekter Kristall“, wie eine Sachverständige Anfang der Woche aussagte, und so konstruiert, dass Gegenstände, die darauf geschmissen werden, abprallen. Ein Durchbrechen könne nur durch Vorschäden wie Risse oder Alter der Scheiben geschehen, so die Sachverständige.
Rakete traf ins Schlafzimmer einer Familie
Das Gericht zeigt sich überzeugt, dass Y. nicht von einem Durchbrechen der Scheibe hätte ausgehen müssen. Die eher milde Strafe habe auch mit den fehlenden Vorstrafen zu tun. Man gehe davon aus, dass Y. keine Straftaten mehr begehe, so der Richter. Die Bewährung soll zwei Jahre gelten.
Vor dem Berliner Landgericht wurden zuvor die vielen Videos von Y. zum Vorfall minutiös durchgeschaut. In der Wohnung selbst saß Y. am Tag nach der Tat neben Emin A., der als Reinigungskraft in Berlin arbeitet und mit seinen Kindern, Schwiegertöchtern und Enkeln in jener Wohnung die Silvesternacht feierte. Zum Tatzeitpunkt befand sich die Feiergesellschaft jedoch in einem Nebenzimmer, die Rußspuren und das verrauchte Zimmer fanden sie erst kurz danach vor, als sie den lauten Knall hörten und die Ursache suchten. Vor Gericht betonte A., dass der Schaden doch nur klein gewesen sein.
„Gott sei Dank. Gott hat es bestimmt, und Gott hat es verhindert“, sagte Y. im Video auf Arabisch. Und küsste A. auf den Kopf. Die Tat sei falsch und solle nicht nachgeahmt werden. Ihm sei nicht klar gewesen, wie eine solche Rakete fliege. Der Bewohner wirkte eingeschüchtert, schwieg im Video.
Doch nicht in allen Videos zeigte sich Y. so reuig. Deutsche und deutsche Araber sowie Behörden und Zeitungen verbreiteten Lügen über ihn, sagte er beispielsweise auf Arabisch in einem Stellungnahme-Beitrag in den sozialen Medien. „Sie hacken auf mir herum, und das ist Rassismus, Rassismus“, sagte er einer vor Gericht verlesenen Übersetzung zufolge. Und über die Behörden: „Sie suchen nach mir, denn sie hassen Araber und den Islam und alle diese Sachen.“
Dass Y. die Flugbahn und Funktionsweise einer Silvesterrakete unbekannt gewesen seien, hält die Staatsanwaltschaft hingegen für „absolut lebensfremd und eindeutig widerlegt“. „Die Berliner Straßen sind voll von solchen Raketen und Menschen, die die Raketen entzünden“, sagt Staatsanwalt Tobias Dettmer in seinem Plädoyer. Y. hätten die Gefahren bewusst sein müssen: Die Rakete hätte einen Schwel- und dadurch einen Vollbrand auslösen können, Bewohner im Bett oder gar im gesamten Haus verletzen können. Es habe eine „erhebliche Gefahr für Leib und Leben“ bestanden, so der Staatsanwalt.
Die Tat sei zudem aus „purem Eigennutz“ erfolgt, da Y. „größtmögliche Aufmerksamkeit“ für sich im Internet habe schaffen wollen. Der Influencer habe in seinen Videos keine echte Reue gezeigt, sich vielmehr über eine unfaire Behandlung beklagt. Der Besuch beim betroffenen Bewohner auf der Couch tags darauf sei „keine aufrichtige Entschuldigung“ gewesen, sagt Dettmer – und fordert eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Y. habe sich der versuchten schweren Brandstiftung und der versuchten schweren Körperverletzung sowie der Sachbeschädigung strafbar gemacht.
Verteidiger betont: Influencer habe „Leidensweg“ hinter sich
Der Verteidiger Czapp betont hingegen den „Leidensweg“ seines Mandanten, etwa durch die mediale und teils falsche Berichterstattung über den Fall. Staatsanwaltschaft und Polizei habe von Anfang der Ermittlungen an ein Bild des Angeklagten geleitet: Ein rücksichtsloser Influencer wolle Profit für sich aus einer gefährlichen Tat ziehen. Es sei allerdings nicht möglich zu sagen, dass Y. „Tod und Verderben“ in Kauf nahm, um Aufmerksamkeit, Öffentlichkeit und möglicherweise Werbeeinnahmen zu generieren, erklärt der Rechtsanwalt in seinem Plädoyer.
Czapp fordert eine „Gesamtschau aller Umstände“: Man müsse seinen Mandanten genau betrachten, nicht nur die eigentliche Tat. Das Video der Tat habe dieser beispielsweise nicht selbst erstellt, sondern ein Freund. Auch das Instagram-Konzept von Y. spreche nicht für Vorsatz bei jener Tat: „Jemand macht Entertainment und Comedy, und jetzt taucht so ein Video auf. Das passt doch überhaupt nicht zu seiner vorherigen Arbeit“, sagte Czapp. Der Angeklagte habe sich zuvor vielmehr strafrechtlich nichts zu Schulden kommen lassen. Ihm eine Absicht, einen Vorsatz, zu unterstellen, halte er für abwegig.
Es habe also gar keine so große Gefahr bestanden, wie von der Staatsanwaltschaft behauptet, so der Rechtsanwalt. Es kam zu keiner Flammenbildung, keinen Brandspuren, lediglich leichten Flecken auf einem Teppich und der Tapete etwa. Das Fenster sei wohl nur durch das Alter überhaupt so vorbelastet gewesen, dass es durch die Rakete durchschlagen werden konnte. „Fakt ist, dass ein größerer Schaden jedenfalls nicht entstanden ist“, so der Verteidiger.
Der Anwalt forderte einen Freispruch von den Vorwürfen der versuchten gefährlichen Brandstiftung und versuchten schweren Körperverletzung. Übrig bleibe nur die Sachbeschädigung.
Y. wird noch an diesem Mittwoch die Berliner Untersuchungshaftanstalt verlassen. Er möchte schnellstmöglich zurück ins Westjordanland, sagt er vor dem Gerichtssaal. „Ich will Entschuldigung sagen zu jedem, den ich verletzt habe, der das Video gesehen hat, oder den Leuten, denen das Haus gehört“, betont er in seiner auf Englisch gehaltenen Stellungnahme vor der Presse. „Es war eine schlimme Zeit im Gefängnis. Aber am Ende bin ich raus.“
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Innenpolitik, insbesondere über die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Regelmäßig schreibt er auch über Gerichtsprozesse in der Hauptstadt.
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