Am Samstagnachmittag ist die Chreschtschatyk-Straße im Zentrum Kiews voller Menschen. Die Bewohner der ukrainischen Hauptstadt nutzen den ersten warmen Sonnentag nach den langen und kalten Wintermonaten für einen Spaziergang über die Prachtstraße mit ihren zahlreichen Geschäften, Cafés und Restaurants. Blumen sind allgegenwärtig, die am internationalen Frauentag verschenkt werden.

Am Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit und dem Ort der pro-europäischen Massendemonstrationen von 2013 und 2014, herrscht dagegen eine nachdenkliche Stimmung. Tausende von Fähnchen stecken nebeneinander im Rasen. Sie stehen jeweils für einen im Krieg getöteten Soldaten – und von Tag zu Tag werden es mehr. Es ist ein eindrucksvolles Bild von Verlust, Trauer, aber auch der Resilienz der Ukrainer.

„Ich bin hier, um meines Cousins Sergej zu gedenken“, erzählt Kateryna. „Er ist letztes Jahr in Donezk im Alter von 38 Jahren gefallen.“ Für sie sei es nur schwer nachzuvollziehen, dass die USA unter Präsident Donald Trump plötzlich derart destruktiv geworden seien. „Niemand hätte gedacht, dass eine jahrelange Freundschaft so zerbricht“, sagt die junge Frau kopfschüttelnd.

„Wir sind geschockt und verärgert“, meint Tatjana, die nur wenige Meter daneben steht. „Sehen Sie sich doch nur das Fahnenmeer an!“ Die 55-jährige Anwältin wünscht sich am Frauentag mehr Panzer und Artilleriegranaten für die Ukraine. „Nur so können wir uns beschützen und noch mehr Tote verhindern“, sagt sie. Es wird vorerst ein Wunsch bleiben.

USA schränkt Unterstützung stark ein

Denn US-Präsident Trump ließ bis auf Weiteres alle Waffenlieferungen an die Ukraine und auch die Kooperation im Bereich der militärischen Aufklärung einstellen. Zudem wurden die Lieferungen medizinischer Hilfsgüter gestoppt und der Zugang der Ukraine zu Satellitenbildern der Firma Maxar Technologies eingeschränkt.

Die US-Regierung soll sogar ihre in Europa stationierten Streitkräfte angewiesen haben, aktiv die Hilfe anderer Länder an die Ukraine zu erschweren, wie Militärexperte Phillips O’Brien berichtet. Dies sei Teil eines Plans, „die ukrainische Demokratie zu schwächen, die Moral der Soldaten als auch der Zivilbevölkerung zu zerstören, um der Ukraine einen schlechten Deal aufzuzwingen“, schreibt der Historiker und Professor für strategische Studien an der schottischen Universität St. Andrews.

Gemeint ist das Abkommen über seltene Mineralien, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eigentlich vor einer Woche in Washington unterschreiben sollte. Doch dazu kam es nicht, denn Trump und sein Vize J.D. Vance ließen Selenskyj nach einer hitzigen Diskussion aus dem Weißen Haus werfen.

Die Unterzeichnung des Memorandums könnte diese Woche in Saudi-Arabien nachgeholt werden. Dort ist ein Treffen zwischen einer ukrainischen und einer amerikanischen Delegation geplant; Thema sind ein möglicher Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit Russland. Trump hofft, Kiew über seine Waffenembargopolitik zu einem gefügigen Verhandlungspartner zu machen.

Aber ist die Ukraine tatsächlich den USA so ausgeliefert, wie Trump zu glauben scheint? Die europäischen Länder wollen einspringen, um die Lücken so gut wie möglich zu schließen. Sie haben der Ukraine zusätzliche Hilfe in Milliardenhöhe zugesichert; allein die EU will ein 20-Milliarden-Paket verabschieden. Frankreich hat angekündigt, die Aufklärung für die Ukraine noch stärker als zuvor zu übernehmen, auch Großbritannien wird Geheimdienstinformationen liefern.

Moskau führt unterdessen seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit unverminderter Härte fort. Am Samstag lancierte Russland die seit langem größte Attacke mit insgesamt 267 Drohnen. Eine ballistische Rakete mit Streumunition schlug in einem Wohngebiet in der Kleinstadt Dobropillia im Osten der Ukraine ein.

Mindestens 14 Menschen wurden getötet und 37 verwundet, darunter fünf Kinder. Militärexperten mutmaßen bereits, dass der plötzliche Abbruch der nachrichtlichen Zusammenarbeit den Angriff in Dobropillia mit ermöglicht haben könnte. Schließlich sei die Ukraine nicht mehr so effektiv in der Lage, russische Raketen zu verfolgen.

Militärexperte hofft auf Europa

In den Straßen von Kiew herrscht eine gespenstische Ruhe. Passanten sind nicht unterwegs, nur hin und wieder fährt ein Wagen vorbei. Das Regierungsviertel, in dem auch Präsident Selenskyj wohnt, ist aus Sicherheitsgründen abgeschirmt. In einem der alten Wohnhäuser, die zu Sowjetzeiten für Funktionäre der Kommunistischen Partei vorbehalten waren, hat Fedir Wenislawski sein Büro.

Er ist Mitglied des parlamentarischen Ausschusses für nationale Sicherheit, Verteidigung und Nachrichtendienste. Wenislawski trägt eine schlichte Uniform, ohne Abzeichen. „Nein, der Abbruch der amerikanischen Aufklärung hatte keinen Einfluss auf Dobropillia und andere Raketenangriffe der Russen“, betont er und holt zum Beweis sein Tablet vom Schreibtisch.

Auf dem Bildschirm, der nicht fotografiert werden darf, kann man die Bewegungen russischer Militärflugzeuge sehen. „Wir sind nicht blind“, sagt er, schließlich seien Informationen über mögliche Bedrohungen aus der Russischen Föderation unverzichtbar. „Gerade eben gab es einen Luftalarm“, erklärt Wenislawski. „Hier können sie die russischen Flugzeuge sehen, eine ballistische Rakete flog von Woronesch über Sumy.“

Die Informationen kamen von den Verbündeten der Ukraine. Mit diesen Daten kann sich die ukrainische Luftverteidigung auf den Angriff vorbereiten. „Ich kann daher nicht sagen, dass die Einschränkung des Nachrichtenflusses aus den USA zum Verlust von Menschenleben geführt hat.“ Trotzdem bedeutet die Unterbrechung der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit kurzfristig eine bis zu 25 Prozent starke Einschränkung.

Wenislawski ist jedoch überzeugt, dass Europa dieses Defizit schon bald ausgleichen werde. „Washington hat also keine Katastrophe ausgelöst“, sagt er. Militärexperten hatten auch Einschränkungen für den Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars prognostiziert. Diese Präzisionswaffe ermöglicht es der Ukraine, Ziele in bis zu 300 Kilometer Entfernung zu treffen. Das Pentagon könnte jedoch die Präzision des Systems beeinflussen und es womöglich sogar ganz abschalten.

„Bisher gibt es keine Probleme mit den Himars“, versichert Wenislawski. „Sollten die Amerikaner den Einsatz ihrer Waffen einschränken, haben sie meiner Meinung nach die technischen Möglichkeiten, dies zu tun“, erklärt er, „aber bisher gibt es keine solchen Signale und ich glaube auch nicht, dass es so weit kommen wird.“

Schwerwiegendere Probleme für die Ukraine dürfte jedoch ein langfristiger Stopp der Waffenlieferungen nach sich ziehen. „Wir verfügen derzeit über genug Waffen, um bis zum Ende des Jahres ohne Unterstützung auszukommen“, kalkuliert Wenislawski. Aber es gibt einige Faktoren, die den Zeitrahmen noch ausdehnen könnten.

Zum einen ist da die nationale Waffenproduktion, die bereits 55 Prozent aller benötigten Waffen herstellt. „Wir werden die Produktion dieses Jahr noch deutlich nach oben schrauben“, sagt Wenislawski. Insbesondere, was Drohnen und Raketen betrifft, sind Produktionssteigerungen zu erwarten. Langstreckendrohnen sollen noch häufiger Ölinfrastruktur und militärische Einrichtungen in Russland angreifen.

Eine neu entwickelte Rakete mit Namen Tremita soll bis nach Moskau fliegen können. Das Bild eines Probestarts hängt im Büro Wenislawskis. Deutlich ist ein riesiger Feuerrückstoß zu erkennen. „Wir arbeiten daran, dass sie bald zum Einsatz kommt.“

Zum anderen will Europa mit 800 Milliarden Euro aufrüsten und hat der Ukraine weiterhin uneingeschränkte Unterstützung zugesichert. „Man kann davon ausgehen, Europa meint es jetzt ernst“, glaubt der Sicherheitsexperte. „Soweit ich weiß, haben Frankreich und Großbritannien etwa bereits begonnen, die Lieferung der erst kürzlich versprochenen Waffen in die Wege zu leiten.“

Außerdem seien diese Länder bereit, Friedenstruppen in die Ukraine zu schicken. „Und aus Deutschland gibt es bereits positive Signale, was die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus betrifft“, offenbart Wenislawski.

Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine. Hier finden Sie alle seine Artikel.

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