Drei Elder Statesmen und eine Managerin legen Vorschläge für eine grundlegende Staatsreform gegen die Bürokratie vor. Sie wittern in der aktuellen politischen Lage ihre Chance.

Die griffigste Formel für die derzeitige Notlage dieser Nation fand am Mittwoch ausgerechnet Andreas Voßkuhle, langjähriger Präsident des Bundesverfassungsgerichts und als solcher eigentlich eher der Mann für verklausulierte Sprache. Voßkuhle also sprach: "Es ist nicht viertel vor zwölf, es ist viertel nach zwölf!"

Damit war der Ton gesetzt für diesen Termin. In der Berliner Bundespressekonferenz stellte eine Vierergruppe, zu der neben Voßkuhle die Ex-Bundesminister Thomas de Maizière und Peer Steinbrück sowie die Managerin Julia Jäkel gehörten, ihre Vorschläge für eine grundsätzliche Neuordnung des deutschen Staatswesens vor – garniert mit diversen schonungslosen Diagnosen über all das, was in Sachen Bürokratieabbau, Digitalisierung, föderale Zuständigkeiten, Sozialstaat oder Sicherheitsarchitektur in diesem Land derzeit nicht läuft. 

30 konkrete Antworten hat die sogenannte Initiative für einen handlungsfähigen Staat, bei der mehr als 50 Experten (und keine aktiven Politiker) mitwirken, dafür gefunden. Allesamt festgehalten in einem ersten Zwischenbericht – deutlich früher als geplant, das voreilige Ende der Ampel warf den ursprünglichen Zeitplan durcheinander. Und gerade noch rechtzeitig, um noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD gehört zu werden. Am Dienstag durfte die Viererbande bereits anderthalb Stunden lang den Sondierern der zukünftigen schwarz-roten Koalition Bericht erstatten.

Ein Digitalministerium mit Durchsetzungsmacht

Zu den zentralen Ideen des Papiers gehört die Schaffung eines Ministeriums für Digitales und Verwaltung. Es soll mit einem zentralen eigenen Budget ausgestattet werden und die Digitalbudgets der anderen Ressorts steuern dürfen. Das Ziel: den Rückstand bei der Verwaltungsdigitalisierung endlich aufholen und zugleich für einen Kulturwandel in den Amtsstuben sorgen – eine Kultur, "die Neues möglich macht, die Räume schafft", so Jäkel. Die ehemalige Chefin des Verlags Gruner + Jahr, in dem damals auch der stern und Capital erschienen, hat Erfahrungen mit ähnlichen Kommissionen: Zuletzt leitete sie den Zukunftsrat zur Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der vergangenes Jahr weitreichende Änderungen bei ARD, ZDF und Co. präsentierte. 

Deutscher Regelwust Woran der Bürokratieabbau bislang scheitert

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Das neue Ministerium soll auch eine Verwaltungsreform für sämtliche Bundesbehörden erarbeiten, bei der Querschnittsaufgaben gebündelt und Tätigkeiten neu verteilt würden. Recht lapidar wird dieses riesige Vorhaben auf fünf Zeilen im Zwischenbericht beschrieben – was kaschiert, mit welchen immensen Beharrungskräften und vielfältigen Hindernissen sich ein solches Vorhaben auseinandersetzen müsste. 

Das charakterisiert so gut wie alle der Vorschläge, die durchaus tiefgreifend und mutig sind: Datenschutz neu ordnen, Sozialleistungen bündeln, Dokumentationspflichten abbauen, überhaupt mehr pauschalieren und weniger Einzelfallprüfungen vornehmen. Häufig geht es um Ideen, die seit Jahren in der Politik kursieren, aber die aus gutem Grund nie das Momentum zur Umsetzung aufbringen konnten. Dazu gehört etwa auch die angedachte Entwirrung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern, die sich Thomas de Maizière mit seiner Arbeitsgruppe vorgenommen hat: Zwei Föderalismuskommissionen haben sich in den 2000er-Jahren bereits daran versucht – die Erfahrungen damit beschreiben damalige Teilnehmer heute als "traumatisch". 

Milliarden können nicht ausgegeben werden wegen Bürokratie

Die Initiatoren aber wollen den Glauben daran nicht aufgeben, dass die politische Lage heute eine andere sei – eine, in der radikale Änderungen möglich seien. Man wisse, dass eine Staatsreform "ein dickes Brett" sei, so Steinbrück. Doch die Chancen dafür stünden so hoch wie nie: Der Druck sei "heute einfach ein ganz anderer als vor fünf oder vor zehn Jahren", erklärt Jäkel im Interview. Ganz konkret würde nämlich die nächste Bundesregierung mit der aktuellen Verwaltungsrealität nicht in der Lage sein, die angepeilten neuen Milliardenausgaben für Verteidigung und Infrastruktur überhaupt auszugeben, warnt de Maizière. Würden nicht wesentliche Bestandteile der 30 Ideen umgesetzt werden, könnte "das viele Geld nicht oder nicht wirksam abfließen in der nächsten Zeit", so der Ex-Minister.  

Es ist eine leidvolle Erfahrung, die viele Politiker und Spitzenbeamte zuletzt machen mussten: Immer mehr zentrale politische Vorhaben scheitern, weil die Umsetzung sich als aktuell unmöglich erweist. Die Einführung der Kindergrundsicherung oder die Ausweitung der Wohngeldberechtigten sieht zum Beispiel der sozialdemokratische Staatskanzleichef von Rheinland-Pfalz, Fedor Ruhose, als Beispiele für "gute politische Ideen", für deren Umsetzung die Verwaltung nicht gut genug aufgestellt gewesen sei. "Da müssen wir eigentlich an die Verwaltungsstrukturen ran", so Ruhose gegenüber Capital.

Bürokratie "Wir können so nicht weitermachen"

Tatsächlich gab es vermutlich nie einen Moment, an dem derartig tiefgreifende Reformen nötiger gewesen wären als jetzt. Und zugleich war es wahrscheinlich auch noch nie so schwierig, auch nur einen Bruchteil davon durchzusetzen: Union und SPD haben mit ihrem Sondierungspapier bereits unter Beweis gestellt, dass sie vor allem auf Durchwurschteln und das Verteilen von Wählergeschenken setzen wird anstatt auf tiefgreifende Reformen. Andererseits zeigen die heftigen Gegenreaktionen, die das Papier provoziert hat, auch, dass es eine breit gestreute Bereitschaft gibt, vieles zu überdenken. Nochmal Voßkuhle: "Jetzt öffnet sich Fenster für einen großen Wurf."

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