Eigentlich sollten hier Kinder spielen. Es gibt Rutschbahnen und eine Schaukel. Dicke Mauern umzäunen das Gelände – als Schutz vor russischen Bomben. Doch dieser Spielplatz in Cherson ist leer. Keine Kinder weit und breit.

Legende: Keine Kinder, dafür Mauern, die an eine Festung erinnern: SRF-Korrespondent David Nauer schreitet über den Spielplatz in Cherson. SRF/David Nauer

Überhaupt ist Cherson ziemlich leer. Einst haben hier fast 300'000 Menschen gelebt, jetzt sind es weniger als ein Drittel davon.

Ich überlege immer, ob es vielleicht eine Tageszeit gibt, in der diese Barbaren gerade mal keine Drohnen schicken.
Autor: Olga Rentnerin aus Cherson

Grund für die Massenflucht: Die Russen stehen quasi am Stadtrand – auf der anderen Seite des Flusses Dnipro. Sie beschiessen Cherson täglich mit Artillerie. Oder sie schicken Kampfdrohnen, die alles angreifen, was sich bewegt: Zivilisten, zivile Autos, immer wieder auch Kinder.

Rentnerin Olga ist eine der wenigen, die über den Hauptboulevard geht. Sie erzählt, dass sie eigentlich kaum mehr aus dem Haus geht vor Angst: «Ich überlege immer, ob es vielleicht eine Tageszeit gibt, in der diese Barbaren gerade mal keine Drohnen schicken. Dann beeile ich mich, um meine Besorgungen zu machen. Den Rest der Zeit bleibe ich zu Hause.»

Legende: Im ausgestorbenen Cherson versucht Olga, irgendwie über die Runden zu kommen – und den russischen Drohnen zu entgehen. SRF/David Nauer

Olga leidet darunter, dass ihre Stadt so leer geworden ist. Will sie selbst nicht auch wegfahren? «Wo soll ich hin? Uns Alte braucht doch niemand. Im Moment hab ich wenigstens noch ein Dach über dem Kopf. Wenn ich das verliere, muss ich schauen, was ich tue.»

Als der Beschuss aufhörte, kam das Publikum ins Theater

Doch trotz der schwierigen Lage: Aufgegeben hat Cherson nicht. Das Stadttheater hat zwar seinen regulären Betrieb aus Sicherheitsgründen eingestellt. Der grosse Saal ist konserviert, bis bessere Zeiten kommen – grosse Tücher decken die Sitze im Zuschauerraum ab, die Bühne dient als Lager für Requisiten. Doch die Theatertruppe macht im Untergrund weiter.

Legende: Im Theater von Cherson wird weiter geprobt – als eine Art künstlerische Selbstverteidigung. SRF/David Nauer

Tief unter der Erde, im Keller des Gebäudes, wird geprobt. Eine Band spielt sich gerade ein. Hier werden regelmässig Konzerte und Theaterstücke aufgeführt. Theaterdirektor Oleksander Kniga schildert, wie man Theater macht, wenn die Front so nahe ist. «Kürzlich organisierten wir etwa einen Tag des Theaters. Zwar mussten wir die Veranstaltung um ein paar Stunden verschieben, weil die Stadt gerade stark beschossen wurde. Aber als das aufhörte, kamen die Leute», sagt Kniga.

Die Menschen in der Stadt lieben ihr Theater. Wir sind für sie ein Symbol für das friedliche Cherson.
Autor: Oleksander Kniga Theaterdirektor

Es ist ein Theatermachen im Ausnahmezustand. Aber: Es ist auch eine Situation, in der ein Theater viel mehr ist als ein Theater. Es ist eine Art künstlerische Stadtverteidigung. Solange Bühnen bespielt werden, ist Cherson nicht verloren.

Ähnlich formuliert es auch der Theaterdirektor: «Die Menschen in der Stadt lieben ihr Theater. Wir sind für sie ein Symbol für das friedliche Cherson.»

Legende: Cherson ist seit Jahren umkämpft. Nun stehen die Russen vor der Grossstadt – ihre Zukunft ist ungewiss. SRF/David Nauer

Cherson hat schon viel durchgemacht. Gleich zu Kriegsbeginn haben die Russen die Stadt besetzt – die Menschen demonstrierten damals gegen die Besatzer, allerdings erfolglos. Rund acht Monate später gelang es der ukrainischen Armee, die Russen aus der Stadt zu vertreiben – zur Freude der Bewohnerinnen und Bewohner.

Vaselina wurde von russischen Drohnen gejagt

Doch der Schrecken geht weiter. Vaselina sitzt mit zerzausten Haaren in einer Flüchtlingsunterkunft. Die Frau Mitte 50 ist kürzlich aus einem Dorf im Umland von Cherson in die Stadt geflohen. Das Leben dort sei unerträglich geworden. «Es gab keinen Tag, an dem die Drohnen nicht flogen. Sie haben gesucht, wo noch irgendwer ist; sie haben nach Anzeichen von Leben gesucht», schildert die Frau die brutale russische Kriegstaktik.

Ich weiss nicht, wie es mit mir weitergeht.
Autor: Vaselina Geflüchtete Frau aus dem Umland von Cherson

Irgendwann haben die russischen Drohnenpiloten Vaselinas Haus entdeckt. «Ich hatte für Hunde und Katzen Futter herausgestellt, da kam eine Drohne und hat gesehen, dass da frisches Wasser steht, eine Pfanne mit frischem Essen.» Kurz darauf bombardierten die Russen Vaselinas Grundstück. Sie zerstörten das Haus, den Schopf, sie töteten Vaselinas Katze.

Die gelernte Köchin beschloss, zu fliehen. Zehn Kilometer musste sie zu Fuss über Felder und durch Waldstücke. Doch selbst auf der Flucht wurde sie gejagt von russischen Drohnen – und wurde beinahe getötet. «Eine Granate ist links von mir heruntergekommen, eine zweite rechts.

Legende: Die russischen Drohnen zerstörten ihr Haus, dann verfolgten sie Vaselina auf der Flucht nach Cherson. SRF/David Nauer

Die dritte ging dann ganz in meiner Nähe nieder. Ich wurde mit Erde zugeschüttet und bin nun auf einem Ohr taub», erzählt Vaselina. Schliesslich schaffte es die Frau mithilfe ukrainischer Soldaten nach Cherson. Nun lebt sie in einer Flüchtlingsunterkunft und versucht erst mal, zu sich zu kommen. Noch fühlt sie sich komplett verloren. «Ich weiss noch nicht, wie es mit mir weitergeht.»

Niemand in Cherson weiss, wie es weitergeht. Doch für den Moment trotzt die ukrainische Stadt den russischen Angreifern auf der anderen Seite des Flusses.

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