Mitten in Colmar, der Bilderbuchstadt im Elsass, kurz hinter der deutschen Grenze, liegt eine Wiese, die derzeit viele Menschen ins Träumen geraten lässt. Wobei das Wort Wiese die Sache nicht wirklich trifft. Grün ist die „Plaine Pasteur“ weder im Winter, wenn sie wie ein braches Feld verwaist daliegt, noch im Sommer, wenn die Sonne erbarmungslos auf die kahle Fläche runterknallt.
Kein einziger Baum wirft dann Schatten auf die fünfeinhalb Hektar große Fläche, auf der man fast acht Fußballfelder unterbringen könnte, doch an Ballspiele oder gar an Picknicks ist an heißen Tagen nicht zu denken.
„Es ist eine Art Niemandsland, verödet und leer“, konstatiert Odile Uhlrich-Mallet, Colmarer Bezirksbürgermeisterin für Umwelt und Städtebau. Die Lokalpolitikerin steht auf dem Feld, über das der Winterwind ungeschützt fegt und das an das Tempelhofer Feld in Berlin erinnert, den riesigen ehemaligen Flughafen, der nun als Erholungsgebiet dient. Uhlrich-Mallet träumt von einem „elsässischen Central Park“, von einem „Anziehungspunkt, der für soziale Durchmischung sorgt, eine grüne Lunge mit Sport- und Kulturangeboten für die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Anwohner, ein Park, der auch Menschen aus der Altstadt anziehen könnte“.
Das kahle Feld ist Teil des Bezirks Europe-Schweitzer, so hochtrabend hatte man einst in Frankreich die Viertel getauft, die man nach dem Krieg aus Wohnungsnot schnell hochzog und die sich in der Folge schnell in Problemviertel verwandelten. Auch in dem 15.000 Einwohner zählenden Viertel von Colmar war das Fall. Die Hälfte der Einwohner lebt bis heute unter der Armutsgrenze. Seit Jahrzehnten wird an dem Viertel rumgedoktert, tausende Wohnungen modernisiert und umgebaut, gerade erst wurden vier Häuserblocks abgerissen.
Trotz des provinziellen Umfelds ist Drogenhandel inzwischen auch hier ein Problem. Das liegt daran, dass in den größeren Städten der Nachbarschaft, in Straßburg und Mühlhausen, mehr Polizei im Einsatz ist als in dem ansonsten so idyllischen Colmar. Die Drogenmafia sucht Orte, an denen sie ungestört ihrer Geschäfte nachgehen kann.
Seit dem Bau des angrenzenden Krankenhauses vor bald hundert Jahren liegt das Feld brach. Vor gut zehn Jahren hat es die Stadt Colmar schließlich gekauft. „Wir hatten hier die ersten Wohnungen mit Zentralheizung“, erinnert sich Bouchta Moubtassim. Der 55-Jährige ist in dem Viertel groß geworden und hat als Kind auf der Brache Fußball gespielt. Nach dem Algerienkrieg hatte Frankreich dort Zuwanderer der ehemaligen Kolonien in Nordafrika untergebracht, auch seine Familie gehörte dazu.
Inzwischen seien die Maghrebiner alle weggezogen, erzählt Moubtassim, sie sind sozial aufgestiegen und durch Migranten aus der Türkei, aus Irak, Syrien und afrikanischen Ländern südlich der Sahara ersetzt worden. Moubtassim ist geblieben, er ist Sozialarbeiter, ein engagierter Mann. Er will helfen, so wie ihm damals geholfen wurde.
Die Bürgerjury tagt
An diesem Winternachmittag sitzt Moubtassim zusammen mit rund zwei Dutzend anderen Mitgliedern einer Bürgerjury in einem hochmodernen, kürzlich hochgezogenen Startup-Zentrum im Europa-Viertel. Die Leute sind zwischen 17 und 70. Der Blick fällt aus den Fenstern direkt auf das graue Feld. Gemeinsam werden sie hier über dessen Zukunft entscheiden.
„Ich möchte die Interessen der Bewohner vertreten, die selbst nicht das Wort ergreifen“, so stellt sich Moubtassim den anderen vor. Ein Vertreter der angrenzenden Moschee sagt: „Hier wohnen so viele brave Leute, sie verdienen einen Park, der ihrer würdig ist.“
Christine Portzer lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern seit 20 Jahren in einem Einfamilienhaus im Europaviertel. Gebaut hatten sie dank staatlicher Anreize, es ging schon damals um soziale Durchmischung. Bereut hat sie diese Entscheidung nie. Sie liest in ihrer freien Zeit Kindern vor.
Portzer ist begeistert, dass es endlich mal darum geht, „kollektiv und global zu denken“. Die Arbeit in der Jury habe bei ihr schon einiges verändert, erzählt sie. Anfangs habe sie klare Vorstellungen gehabt, wie sie sich das Feld vorstelle, „eine richtige Einkaufsliste“. Doch sie habe begonnen, ihre Ideen neu zu reflektieren. „Heute frage ich mich, was ich und andere empfinden wollen, wenn sie sich dort aufhalten?“
Das Hauptproblem des Viertels und damit des Feldes ist, dass es von der Altstadt abgeschnitten ist, getrennt durch die Bahngleise. Colmar ist zweigeteilt, in einen pittoresken Teil mit Weihnachtsmarkt und in ein Viertel, in das sich kein Tourist verirrt. Der Park, so hofft man in Colmar, könnte die gekappte Verbindung wieder herstellen, Menschen anziehen, Verbindungen schaffen.
„Ich wohne auf der anderen Seite der Bahngleise, in der Altstadt“, gesteht Laure, eine junge Frau, die normalerweise nur hierherkommt, um zu joggen. Auch alle anderen Mitglieder der Bürgerjury, die sich an diesem Nachmittag zu Wort melden, präzisieren, auf welcher Seite der Gleise sie leben. „Mich macht das traurig, diese Spaltung der Stadt und die Vorurteile gegen unser Viertel“, sagt eine ältere Dame.
Der elsässische Zentralpark, von dem sie in Colmar träumen, ist Teil des staatlichen Programms „Petits Quartiers de demain“, kleine Zukunftsviertel. Im Juni 2023 hatte es Präsident Emmanuel Macron bei einem Besuch in Marseille angekündigt.
Auf seine hochtrabende Art versprach der Präsident zehn „Cités radieuses“ zu schaffen. So wird die nach dem Krieg von Le Corbusier erbaute Wohneinheit in Marseille genannt. Die „strahlende Stadt“ sollte damals die Architektur revolutionieren. Auch dieses Mal geht es um eine Revolution. Nicht die Architektur soll neu erfunden werden, sondern die Stadtpolitik.
Ein Beispiel für Frankreich
Ziel des Projekts ist es, die Bewohner in die Planung ihrer Bezirke einzubeziehen, architektonisches Erbe zu erhalten, auch wenn es auf den ersten Blick nicht unbedingt rettenswert erscheint, die Städte dem Klimawandel anzupassen und lebenswert zu machen. Es geht, kurz gesagt, um die Stadtpolitik der Zukunft. Gestaltet, nicht von Politikern, sondern von Bürgern.
In Frankreich wurden zehn Pilotprojekte für die „Petits Quartiers de demain“ ausgewählt. Im benachbarten Sedan geht es darum, Wohntürme umzugestalten, ebenso in Pessac, bei Bordeaux. Dort hatten in den Siebzigerjahren Stararchitekten eine Siedlung gebaut, in der heute niemand mehr leben will. In einem Viertel im Norden von Marseille wird ein grüner Korridor angelegt.
Aber was wiegen zehn Projekte gegen knapp 1500 Problemviertel, die Frankreich zählt? Die Rechnung geht nicht auf. „Doch“, sagt Céline Laurens, Direktorin des Programms. Es gehe um „exemplarische Ideen“, um Beispiele, die sich überall im Land durchdeklinieren ließen und die „Leben und Alltag der Menschen wirklich verbessern“, so Laurens.
Neuneinhalb Millionen Euro stellt Frankreich für das gesamte Programm zur Verfügung. Damit wird die Ausschreibung des internationalen Wettbewerbs finanziert. An diesem haben sich Zusammenschlüsse internationaler Agenturen beteiligt. Für jedes der zehn Projekte werden in wenigen Tagen drei Agenturen ausgewählt, die ihre Ideen zusammen mit den Bürgerjurys weiterentwickeln sollen.
Von einem „Laboratorium städtischer Metamorphose“ spricht der Direktor des Pariser Architekturmuseums „Cité de l’Architecture“, Julien Bargeton. Er wird das Ergebnis des Wettbewerbs im Dezember in einer Ausstellung präsentieren. „Es geht dieses Mal nicht um Metropolen, sondern um sozial abgehängte Bezirke“, betont Bargeton. Und darum, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.
Colmar ist nicht New York. Natürlich nicht. Immobilienhaie hätten allerdings auch mit dem fünfeinhalb Hektar großen Feld in der französischen Provinz etwas anzufangen gewusst. Jetzt liegt es in der Hand der Bürger, was die Stadt daraus macht. Zehn Millionen Euro stellt sie für die Umsetzung zur Verfügung. Ehe die Bäume Schatten werfen im neuen Zentralpark wird es dauern. Aber das war in New York auch nicht anders.
Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.
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