Der Titel hätte nicht aktueller sein können: „Staatsgerichtshof“ steht fett auf dem Jahresbericht des Bundesverfassungsgerichts, der am Mittwochabend der Presse in Karlsruhe vorgestellt wurde. Als Staatsgerichtshof bezeichnet man traditionell ein Gericht, das sich mit staatsorganisatorischen Fragen befasst, etwa mit Streitigkeiten zwischen obersten Staatsorganen oder der Rechtmäßigkeit von Wahlen.
Vergangenes Jahr hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Funktion als Staatsgerichtshof die Wahlrechtsreform der Ampel teilweise gekippt (Stichwort „Grundmandatsklausel“), die NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen und der AfD einen Anspruch auf Ausschussvorsitze im Bundestag verwehrt.
Gegenwärtig muss sich Karlsruhe mit einer Flut an Eilanträgen rund um die geplante Verabschiedung mehrerer Sondervermögen durch den alten Bundestag befassen. Die Linke und AfD wollen verhindern, dass ab Donnerstag die aus ihrer Sicht abgewählten Abgeordneten noch einmal zusammenkommen und das Grundgesetz ändern.
Daher verließen die Mitglieder des zuständigen Zweiten Senats den Jahrespresseempfang am Mittwoch sogar vorzeitig, um weiter darüber beraten zu können. Eine Entscheidung muss spätestens bis zum 18. März, dem Tag, an dem die Schlussabstimmung im Parlament stattfinden soll, ergehen – wann genau sie fertig ist, konnten die Richter selbst nicht sagen. Die Beratungen dauern eben so lange, wie sie dauern.
Aber das Bundesverfassungsgericht ist eben nicht nur Staatsgerichtshof, sondern auch ein Bürgergericht, das die Grundrechte des Einzelnen schützen soll. So spielte an dem Abend der Fall von Maja T. weiterhin eine große Rolle. Im Juni letzten Jahres wurde die inhaftierte T. von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin überraschend mitten in der Nacht nach Ungarn ausgeliefert. Und das, obwohl ihr Anwalt der Behörde angeblich angekündigt hatte, die Rechtmäßigkeit der Überstellung noch durch das Verfassungsgericht überprüfen lassen zu wollen.
Die Staatsanwaltschaft weigerte sich aber einfach, die Entscheidung abzuwarten, mit dem formalen Argument, dass das Einlegen einer Verfassungsbeschwerde keine aufschiebende Wirkung entfalte. Als Karlsruhe dann innerhalb weniger Stunden, nachdem der Anwalt das Gericht über die Auslieferung informiert hatte, diese per Eilanordnung untersagte, war T. bereits an die ungarischen Behörden übergeben worden – der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz griff ins Leere.
Am Mittwochabend brachten die Verfassungsrichter ihre Frustration darüber noch einmal zum Ausdruck. Man brauche nun mal ein paar Stunden, um die eingereichten Unterlagen vollständig zu lesen und im Kollegium beraten zu können, hieß es. Davor könne man keine Vorgänge anhalten. Diese Zeit hatte ihnen die Berliner Staatsanwaltschaft nicht gelassen.
Zu den Themen, denen sich das Gericht im Jahr 2025 widmen will, zählen der Solidaritätszuschlag, die gesetzliche Altersgrenze für Notare, die Nutzung der Luftwaffenbasis Ramstein für amerikanische Drohnenangriffe, das neue Klimaschutzgesetz und die Praxis der Kleinen Anfragen im Bundestag. Aber jetzt steht erst einmal die Entscheidung über die Eilanträge von der Linken und der AfD an.
Während gerade alle Augen auf Karlsruhe gerichtet sind, schaut besonders ein Richter nach Berlin. Denn die Amtszeit von Josef Christ endete eigentlich schon im November – und wenn der Bundestag innerhalb von zwei Monaten keinen Nachfolger wählt, ist das Verfassungsgericht eigentlich verpflichtet, drei geeignete Kandidaten vorzuschlagen.
Doch angesichts der Neuwahlen entschied sich das Richterplenum, vorerst darauf zu verzichten und dem neuen Bundestag die Chance zu geben, „in überschaubarer Zeit“ selbst einen neuen Richter zu finden. Wenn das nicht klappt, muss es Karlsruhe halt wieder richten.
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