Vor einem Jahr glaubte Jorge noch, ein russischer Pass würde ihm Freiheit und Wohlstand bringen. Stattdessen steckt er jetzt in einem Krieg, in dem er sein Leben für Moskaus brutalen Feldzug gegen die Ukraine riskiert. Der Kubaner gehört zu Tausenden Ausländern, die einen Jahresvertrag mit der russischen Armee unterschrieben haben – gelockt vom Versprechen auf hohe Gehälter und eine schnelle Einbürgerung für sich und ihre Familien.
Für viele Kubaner, die das Leben unter Havannas diktatorischem Regime und den US-Sanktionen als eine Art Freiluftgefängnis empfinden, ist das Versprechen auf einen zweiten Pass ein großer Anreiz. Doch dieses Dokument hat seinen Preis – und der kann tödlich sein. „Jetzt sagen sie uns, dass wir als russische Staatsbürger bis zum Ende des Krieges kämpfen müssen“, berichtet Jorge, der sich in der russischen Region Kursk aufhält. Wie andere, die für diesen Artikel interviewt wurden, spricht er aus Sicherheitsgründen unter einem Pseudonym.
Angesichts der Verluste sucht Moskau weltweit nach Nachschub. Über zwielichtige Mittelsmänner wurden Kämpfer aus Ländern wie Nepal, Ghana, Syrien, Indien und Sri Lanka rekrutiert. Die genaue Zahl der ausländischen Rekruten ist ein streng gehütetes Geheimnis. Aber Militärexperten sind sich einig, dass sie nur einen kleinen Teil der Armee des Kremls ausmachen – eher, um Lücken zu füllen, als den Kriegsverlauf maßgeblich zu beeinflussen.
Politisch jedoch nutzt Moskau ihre Präsenz, um eine Erzählung im Stil des Kalten Krieges zu propagieren. Demnach führt Russland angeblich eine breite Koalition von Ländern an, die sich gegen die amerikanische Vorherrschaft wehren. Kubaner kennen dieses Narrativ noch aus sowjetischen Zeiten, als Zehntausende von ihnen nach Angola geschickt wurden, um dort in einem Stellvertreterkrieg gegen die USA zu kämpfen. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump hat dieses Narrativ zumindest etwas von seiner Schärfe verloren.
Allerdings nannte kaum einer der kubanischen Rekruten, die die WELT-Partnerpublikation „Politico“ für einen früheren Artikel interviewt hat, ideologische Überzeugungen als Grund für den Eintritt in die russischen Streitkräfte. Einige berichteten, sie seien getäuscht worden. Sie hätten auf Beiträge in sozialen Netzwerken geantwortet, die vermeintlich niedrig qualifizierte Ziviljobs angeboten haben, und seien damit nach Russland gelockt worden.
Andere gaben zu, bewusst und freiwillig auf Russlands Kriegsaufruf reagiert zu haben. Finanzielle Not und familiäre Verpflichtungen hätten ihre Entscheidung bestimmt. In Kuba, erzählten sie, hätten sie ihren Lebensunterhalt mühsam als Lehrer, Tischler, Kellner oder Bauarbeiter verdient. Die Hoffnung war, dass ihnen ein Jahr Militärdienst eine neue Staatsbürgerschaft – und damit ein neues Leben – verschaffen würde.
Zwölf Monate später sagen kubanische Rekruten und ihre Familien aber, dass der neue Pass ihnen weniger Rechte gebracht habe. Stattdessen bescheinigt er ihren Abstieg zu mobilisierten russischen Staatsbürgern – ein Status, um den sie selbst gebürtige Russen nicht beneiden. „Sie benutzen die Staatsbürgerschaft, um uns festzuhalten“, sagte David, ein weiterer kubanischer Rekrut, in einem Videoanruf.
Sein Vertrag endete offiziell im Juli. Seinen kubanischen Ausweis hat David nach eigenen Angaben zuletzt im Oktober 2023 gesehen, als er von seinen Vorgesetzten eingezogen wurde. Kurz darauf wurde David auch sein russischer Pass abgenommen – nur wenige Wochen nach der Ausstellung. Man teilte ihm mit, es wäre sicherer, ohne Pass in die Ukraine einzureisen.
Die Pässe werden ihnen abgenommen
Andere haben ihren russischen Pass nicht einmal zu Gesicht bekommen. „Sie wollen uns nicht gehen lassen“, sagte Manuel, ein Rekrut aus der ersten Welle von Kubanern, die nach Russland gekommen sind. Er hat bis heute keinen neuen Pass. Seine kubanischen Dokumente wurden ihm kurz nach der Ankunft abgenommen, sodass ihm nur noch sein Militärausweis bleibt.
Laut Iwan Tschuwilajew, Mitglied der Menschenrechtsgruppe Idite Lesom, die mobilisierten Russen bei der Flucht von der Front hilft, ist Manuels Situation typisch für Moskaus Taktik, Druck auf ausländische Rekruten auszuüben. „Sie haben keine Dokumente“, erklärte Tschuwilajew. „Deshalb können sie nicht einfach weglaufen und sich an die Botschaft ihres Landes wenden.“ Im Fall Kubas ist es ohnehin unwahrscheinlich, dass ein solcher Hilferuf etwas bewirken würde.
Im September 2023 berichteten Medien, dass Hunderte Kubaner zum Kämpfen nach Russland gereist seien. Daraufhin verurteilten die Behörden in Havanna die Männer als „Söldner“ – ein Vergehen, auf das in Kuba eine Haftstrafe droht – und leiteten Verfahren gegen die mutmaßlichen Rekrutierer ein.
Indien hat sich intensiv darum bemüht, seine eigenen Bürger zurückzuholen. Beweise deuten jedoch darauf hin, dass die Rekrutierung von Kubanern weitergeht, während Havanna öffentlich einen Kniefall vor Putin gemacht hat. In aufgezeichneten Äußerungen bot Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel Putin Kubas Unterstützung an und wünschte ihm „Erfolg bei Ihrer speziellen Militäroperation“.
Damit verwendete er bewusst Putins Euphemismus für den Krieg, was dem russischen Präsidenten zweifellos gefallen haben dürfte. Kuba ist für Rohöl und Weizen auf Russland angewiesen. Doch während Moskaus Verbündete wie Iran und Nordkorea Drohnen und Artillerie liefern, hat das verarmte Kuba wenig mehr zu bieten als Schmeicheleien – und Menschen.
„In Kuba gibt es ein staatlich genehmigtes System, das es billigt, die eigenen Bürger in die Ukraine und damit in den Tod zu schicken“, sagte Petro Jazenko, Sprecher der ukrainischen Agentur für Kriegsgefangene, einem Zweig des ukrainischen Verteidigungsministeriums, im März zu Journalisten. Jazenko berichtete von einem Anstieg der Zahl ausländischer Soldaten, die im vergangenen Jahr gefangen genommen wurden – Kubaner lagen an der Spitze.
Öffentlich entgegnen Moskaus Beamte und Propagandisten, dass auch auf der Seite der Ukraine ausländische Kämpfer im Einsatz seien. Zwar rekrutiert die Ukraine tatsächlich ausländische Soldaten, doch laut der Militärexpertin Dara Massicot von der US-Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace werden sie „ganz anders behandelt – diejenigen, die für die Ukraine freiwillig kämpfen, unterschreiben Verträge und können nach deren Ablauf gehen“.
Für die Kubaner, die in Russlands Krieg feststecken, ist die Verlängerung ihrer Zeit an der Front über den vertraglich vereinbarten Zeitraum weit mehr als eine Formalität. Jede zusätzliche Minute erhöht das Risiko für körperliche oder psychische Verletzungen – und bringt sie dem Tod näher.
Der Gedanke, dass sein Einsatz im russischen Militär ein klares Ende haben würde, habe ihn im ersten Jahr über Wasser gehalten, sagt David mit zitternder Stimme. „Ich habe mit Gott einen Pakt für ein Jahr geschlossen, und er hat mich beschützt. Aber nicht für zwei oder drei Jahre“, fügt er unter Tränen hinzu. Jetzt kann er nur hoffen, dass die Friedensbemühungen zwischen den USA, der Ukraine und Russland schnell zu einem Ergebnis führen.
Wie jeder kubanische Rekrut, den „Politico“ interviewt hat, hat auch David Splitterverletzungen durch ukrainische Drohnen- oder Raketenangriffe erlitten. Nach der medizinischen Behandlung wurde er aber wieder an die Front geschickt – manchmal schon, bevor die Wunden verheilt waren.
Pablo wurde im Krankenhaus wegen einer Drohnenverletzung an seiner rechten Hand behandelt. Außerdem sei bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Sein Kommandeur habe ihm daraufhin gesagt, er müsse eben lernen, mit links zu schießen.
Viele Rekruten sagten zwar, sie seien in hinteren Positionen eingesetzt worden, wo sie Gräben und Befestigungen in von Russland besetzten Gebieten in der Ostukraine ausheben mussten. Andere jedoch wurden an die vorderste Front geschickt, darunter auch nach Kursk.
„Dort steht alles in Flammen“, sagte Jorge. Ein Mann, mit dem er vor über einem Jahr nach Russland gereist sei, sei erst vor wenigen Wochen bei einem Raketenangriff gestorben, erzählte er. „Politico“ bestätigte dessen Tod über Verwandte in Kuba.
Einige Rekruten haben versucht, von der Front zu fliehen – und manche haben es geschafft. Als David im Krankenhaus erfuhr, dass er trotz seiner Verletzungen und obwohl sein Vertrag seit vier Monaten abgelaufen war, wieder an die Front sollte, floh er. Jetzt lebt er versteckt an einem geheimen Ort. Ohne Papiere, sucht er nach einem Weg, aus Russland zu entkommen. „Kubaner wie ich haben genauso viel Angst vor Kuba wie vor Russland“, sagte er.
Für viele Rekruten sind die Geschichten von erfolgreichen Fluchten ein seltener Grund für Optimismus. „Sie geben uns Hoffnung, dass es einen Weg hier rausgibt“, sagte Jorge. Doch wer erwischt wird, riskiert eine Anklage wegen Fahnenflucht oder eine Versetzung an die vorderste Front – was einem Todesurteil gleichkommt.
Aus Angst vor Strafen sagten drei der vier Rekruten, deren Jahresverträge abgelaufen sind, dass sie lieber bleiben und auf eine höhere Macht vertrauen wollen. „Alles, was ich tun kann, ist warten“, schrieb Manuel, „und zu Gott beten, dass ich diesen Ort eines Tages verlassen darf. Als freier Mann.“
Dieser Text erschien zuerst bei der WELT-Partnerpublikation „Politico“. Übersetzt aus dem Englischen von Jessica Wagener.
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