Das Erscheinen der ärztlichen Leitlinie zur Behandlung von sogenannten Transkindern verschob sich immer wieder, die Ausarbeitung war schwierig. Zunächst waren inhaltliche Kommentare von Professoren gar nicht erwünscht gewesen. Es folgte harsche Kritik aus der Fachöffentlichkeit und von Elternverbänden, die Bundesärztekammer warnte vor den Folgen.
Doch am 7. März erschien nun, diesmal ohne öffentliche Präsentation, die finale Behandlungsleitlinie auf dem Portal der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Federführend: die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP).
Die Leitlinie soll die medizinischen Standards setzen. Also Psychotherapeuten, Kinderpsychiatern und anderen Berufsgruppen einen Umgang mit Kindern und Jugendlichen an die Hand geben, die behaupten, sich nicht ihrem Geschlecht zugehörig zu fühlen. Ursprünglich wurde sie für Deutschland, Österreich sowie die Schweiz ausgearbeitet. Ihre Verfasser verfolgten von Anfang an den affirmativen Ansatz, wonach Ärzte Kinder und Jugendliche in ihrem „Gefühl“ bestätigen sollten. Das reicht vom neuen Vornamen über einen Eintrag im Personenstandsregister über den Einsatz von Pubertätsblockern und Hormonen bis hin zu Operationen bei Volljährigkeit. Andere mögliche Ursachen für das empfundene Leid werden in der Leitlinie ausgeblendet und eine Untersuchung der Ursachen als ethisch verwerflich dargestellt.
Kinderpsychiater kritisierten den Einsatz von Hormonen bei gesunden Kindern und Jugendlichen, verwiesen auf mangelnde Evidenz sowie aktuelle Studien wie den Cass-Report aus Großbritannien, der bei Minderjährigen zu Vorsicht bei Hormonbehandlungen rät. Doch die Verfasser der Leitlinien nahmen zwar die aktuelle Forschungsliteratur auf, änderten aber nichts Entscheidendes an der Ausrichtung und der Empfehlung des affirmativen Ansatzes. In einer knappen Mitteilung verkündete die DGKJP: „Besonderer Wert wurde in den Empfehlungen auf sorgfältige und reflektierte Abwägungen bei Entscheidungen hinsichtlich einer hormonellen Behandlung im Jugendalter gelegt.“
Derweil rumort es innerhalb der kinderpsychiatrischen Kreise. Die Schweiz, obwohl selbst beteiligt, verweigerte bislang ihre Zustimmung zu der Leitlinie. Die mit 10.000 Mitgliedern größte Gruppe, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), gab Dutzende Sondervoten ab. Im vergangenen Jahr wandte sich die DGPPN an den Leitlinienkoordinator, den Münsteraner Kinderpsychiater Georg Romer, und kritisierte die Ausrichtung. Änderungen im Grundsatz erfolgten nicht – und dennoch zeichnete die DGPPN nun mit.
Auf Anfrage von WELT sagte Präsidentin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, die DGPPN unterstütze die Leitlinie „grundsätzlich“. Allerdings sei „im Prozess der Leitlinienerstellung“ deutlich geworden, „dass zu wichtigen Aspekten keine ausreichende Evidenz vorliegt und noch viel Forschungsbedarf“ bestehe. „Einige Empfehlungen der Leitlinie werden von der DGPPN entsprechend nicht mitgetragen.“ Ein Sondervotum der DGPPN richtet sich gegen die umfangreiche Präambel. Diese besagt im Kern, dass Kinder und Jugendliche selbst darüber entscheiden, welchem Geschlecht sie angehören, und dass Ärzte diesem Wunsch zu entsprechen haben, ihnen also im Zweifel Medikamente verordnen sollen, die das Aussehen verändern.
Diese und weitere Kritikpunkte der DGPPN wurden in der Leitlinie mitveröffentlicht. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, dass dies die Bedingung der DGPPN gewesen sei, um überhaupt zu unterschreiben. Die Kritik dieser Gesellschaft gibt wieder, was seit dem Erscheinen verschiedener Studien und mehrerer Medizinskandale international diskutiert wird. Sie bildet auch Entwicklungen in Ländern wie Finnland, Großbritannien und jüngst den USA ab, die sich von der Medikamentengabe abwenden und wieder auf Psychotherapie setzen.
Kinderpsychiater weist auf bemerkenswerte Änderung hin
Auch der Kinderpsychiater Florian Zepf äußerte sich kritisch. Der Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena hatte bereits im vergangenen Jahr zusammen mit 14 anderen Professoren vor den fachlichen Lücken gewarnt. Einige Kritikpunkte seien teilweise in dem Dokument formell aufgenommen worden, allerdings ohne Folgen für die inhaltliche Ausrichtung.
Bemerkenswert sei auch eine Veränderung im Vergleich zur vorherigen Fassung, sagte Zepf: Die Leitlinie schlage nun eine Unterscheidung zwischen einer stabilen „Geschlechtsinkongruenz“ und vorübergehender „Geschlechtsunzufriedenheit“ bei Minderjährigen vor. „Allerdings gibt sie keine spezifischen Kriterien dafür an, wie diese beiden Gruppen im Voraus unterschieden werden können“, sagte er WELT. Dies sei eine fehlerhafte Argumentation, da wichtige Evidenz ignoriert werde: „Selbst, wenn Kliniker die Diagnose einer Geschlechtsinkongruenz für korrekt halten, dann besteht diese in den meisten Fällen nur wenige Jahre später nicht mehr“, sagte Zepf mit Verweis auf eine aktuelle Studie aus Deutschland.
Nach fünf Jahren hatten demnach nur 36,4 Prozent der Betroffenen noch eine bestätigte Diagnose. Die Argumentation für Pubertätsblocker oder Geschlechtshormone basiere auf „unklarer Differenzierung“. Es gebe keine validen Kriterien, um überhaupt festzustellen, ob es sich um ein vorübergehendes oder bleibendes Problem handle. Ein großes Problem, welches die Leitlinie mit sich bringe, sei der Umgang mit unterschiedlichen Meinungen zum Einsatz von Pubertätsblockern oder Hormonen zwischen Eltern und Kindern. Eine unabhängige rechtliche Prüfung solle dann darüber bestimmen, was im besten Interesse des Kindes liege: „Dies könnte dazu führen, dass Eltern, die dies ablehnen, im Extremfall das Sorgerecht oder die Gesundheitsfürsorge für ihre Kinder entzogen werden kann“, warnte der Arzt.
Unklare Auswirkungen auf das Kindeswohl
Und das, obwohl aus medizinischer Sicht unklar sei, was genau in einem solchen Fall das Kindeswohl bedeuten würde: „Die Leitlinie scheint auf der falschen Annahme zu beruhen, dass in jedem Kind eine festgelegte, allgegenwärtige und unveränderliche Geschlechtsidentität existiert, die völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht ist“. Dies sei eine „unbewiesene wissenschaftliche Annahme“, sagte Zepf. Die Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen unterliege vielmehr einer „Selbstinterpretation“, wobei sich diese im Entwicklungsverlauf ändern kann. Die Empfehlungen enthielten „erhebliche Mängel“, die Schäden für Kinder und Jugendliche bedeuten könnten: „Es ist noch nicht zu spät, diese Leitlinie zurückzuziehen und sie im Licht der tatsächlichen medizinischen Evidenz zu überarbeiten.“
Kritik kommt auch von Kinderpsychiater Tobias Banaschewski, der die finale Fassung der Leitlinie als „hochgradig ideologisch“ bezeichnet. Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, sagte WELT: „Sie gibt mit der Empfehlung von Pubertätsblockern und Hormonen bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie Empfehlungen, die vom internationalen Konsens erheblich abweichen.“ Es stelle sich die Frage nach der Patientensicherheit und dem Kinderschutz, wenn körperlich gesunde Kinder und Jugendliche behandelt würden.
Unveröffentlichtes Gutachten als Beleg verwendet
Leitlinienkoordinator Georg Romer wollte sich auf Anfrage von WELT zum Vorgehen und dem Umgang mit der Kritik nicht äußern. Außerdem wirft das Papier neue Fragen auf. Etwa die, welche Rolle ein noch unveröffentlichtes Rechtsgutachten spielt, das Romer in der Leitlinie in Kapitel 5 nennt und das im Auftrag der Universität Münster erstellt wurde. Es geht um juristische Fragen zur Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger. Indem Romer aber auf das Rechtsgutachten verweise, entstehe „der Eindruck, man habe sich mit den medizinethischen Problemen des Themas besonders eingehend beschäftigt“, kritisierte die DGPPN in einer Anmerkung. Doch seine einzige Quelle sei dieses unveröffentlichte Papier.
Die Elterngruppe „Transteens sorgeberechtigt“ kritisierte, dass trotz jahrelanger Debatte und aktueller Forschungsergebnisse keine „Selbstkorrektur“ bei den Verfassern erfolgte. Stattdessen orientiere diese sich weiterhin an den längst widerlegten Standards der Transgesundheitsorganisation WPATH. Auch in den deutschsprachigen Ländern bestätigten Experten jetzt Teenagern, „im falschen Körper zu sein“, suggerierten ein Verschwinden von psychischen Problemen durch Körperveränderung und Medikamente. Die Gründerin der Gruppe, Anna Weber, fasste zusammen: „Eltern fürchten, dass ihre Kinder sich gesunde Organe entfernen lassen und körperliche Eingriffe ihre Dysphorie nicht heilen, ihnen nicht das erwartete Glück bringen.“ Stattdessen würden sie zu unfruchtbaren und geschädigten „Langzeit-Patienten“ mit einer verkürzten Lebenszeit.
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