Uwe Jun ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Der 62-Jährige ist zudem Sprecher des Arbeitskreises Parteienforschung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.
WELT: Herr Jun, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat den Einzug in den Bundestag verpasst. Ist Parteichefin Wagenknecht gescheitert?
Uwe Jun: Die Partei ist gerade ein gutes Jahr alt, in der Geschichte der Bundesrepublik ist das Ergebnis durchaus ein Erfolg. Nie hat es eine Partei im Jahr nach der Gründung in den Bundestag geschafft, nicht einmal die heute etablierte AfD. Es ist ein Rückschlag und eine Enttäuschung für Wagenknecht. Parteien sind aber auf langfristige Dauer ausgerichtet.
WELT: Dennoch: Die Partei ist mit großer Aufmerksamkeit gestartet, verzeichnete erste Wahlerfolge. Wie erklären Sie sich die Niederlage?
Jun: Die Polarisierung „links gegen rechts“ im Wahlkampf war äußerst unglücklich für die Wagenknecht-Partei. Als Hybrid-Partei will sie linke Sozial- und Wirtschaftspolitik mit rechtsautoritären soziokulturellen Positionen verbinden. Das passte nicht zur Stimmung. Hinzu kam die weitere Themenkonjunktur: Der Krieg in der Ukraine mobilisierte kaum Wähler.
Dazu kamen innerparteiliche Querelen, die Wagenknecht durch den Wahlkampf begleiteten. Selbst unter den handverlesenen Mitgliedern kam es zu Konflikten, etwa in Hamburg und Bayern. Die von manchen als autoritär empfundene Mitgliederkontrolle hat zudem zu viel Unmut unter Anhängern geführt, die gerne aufgenommen worden wären. Dabei braucht eine Partei gesellschaftliche Verankerung. Sie braucht möglichst viele Menschen, die für die Partei nach außen sichtbar sind. Das hat gefehlt und sollte durch eine Öffnung bald geändert werden.
WELT: Wagenknecht spricht nun von einem „Dilemma“ nach den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Viele Sympathisanten nehmen der Partei die Koalition mit CDU und SPD in Thüringen übel. War das ein Fehler?
Jun: Von einem Fehler würde ich nicht sprechen. Der Streit zwischen Berlin und Erfurt hat aber den Bundestagswahlkampf erschwert. Das Image als Protestalternative wurde geschwächt. Mit „Die alten Parteien haben versagt!“ werben und gleichzeitig mit ihnen koalieren, ist schwer zu vermitteln.
WELT: Wagenknecht wollte einst die Alternative zur AfD bieten. Doch nahm der Rechtsaußenpartei kaum Stimmen ab. Wieso?
Jun: AfD-Wähler stehen recht fest zu ihrer Partei und sind nur schwer zu einem Wechsel zu bewegen. Das BSW hätte hier klarere Angebote formulieren müssen, um die weniger überzeugten AfD-Wähler zu erreichen. Doch sie unterbreitete denen kaum attraktive Angebote. Die Migrationspolitik des BSW beispielsweise erschien potenziellen AfD-Wählern nicht radikal genug.
WELT: Wagenknecht spricht nun von Manipulation durch schlechte Umfragewerte, von schlechter Presse und verhinderter Stimmabgabe von Deutschen im Ausland. Wie bewerten Sie das?
Jun: Das BSW täte gut daran, die eigenen Fehler zu analysieren.
WELT: Hat das BSW noch eine Zukunft, möglicherweise ohne Wagenknecht an der Spitze?
Jun: Ohne Frau Wagenknecht dürfte es für das BSW spürbar schwerer werden. Die Partei braucht ein Erkennungszeichen, eine bekannte Persönlichkeit als Aushängeschild ist da ein Vorteil. Zudem braucht jede Partei Themen, bei denen ihr eine klare Kompetenz zugeschrieben wird, mit der sie verbunden wird – solche fehlen derzeit weitgehend.
WELT: Die Linke hingegen feiert einen Sensationserfolg. Mit einem Fokus auf Mietpreise und Umverteilung setzte sie auf linke Klassiker. Eine kluge Strategie in der Wirtschaftskrise?
Jun: Eindeutig, ja. Die neue Parteispitze um Ines Schwerdtner und Jan van Aken konnte unbelastet von Machtkämpfen, Intrigen und Wahlniederlagen der Vergangenheit handeln. Viele Leute machen sich große Zukunftssorgen, haben Abstiegsängste. Die Rechte verbindet Fragen sozialer Ungleichheit sehr erfolgreich mit der Migrationspolitik und verbindet das mit einem Kampf um die eigene Identität. Die Linke hat lange Zeit eher gejammert, wie schwierig die Welt doch geworden sei. Für sie war es eine kulturelle Identitätsfrage.
WELT: Wie meinen Sie das?
Jun: Die tiefsitzenden Ungleichheitsfragen werden unter der neuen Parteispitze nicht mehr mit Betroffenheitsritualen beantwortet, sondern mit ganz konkreten Schritten: Über die teils radikalen Umverteilungsparolen hinaus bot die Linke etwa Hilfe beim Mietpreis oder den Heizkosten an. Die Linke war plötzlich wieder Kümmerer-Partei. Dabei wurde ein Gefühl vermittelt: Mit gemeinsamen Aktionen können wir gegen diese Ungerechtigkeit vorgehen.
Schwerdtner und van Aken können das konsistent und glaubhaft vermitteln. Carola Rackete beispielsweise als EU-Spitzenkandidatin stand und steht aber nicht für solche Themen.
WELT: Viele Stimmen kamen allerdings von jungen Wählerinnen in Großstädten.
Jun: Gerade in den Großstädten sind viele Studierende von steigenden Lebensmittelpreisen, fehlendem Wohnraum und hohen Energiepreisen betroffen. Die Strategie der sozialen Stadt-Partei verfängt da.
Zudem hat die Partei sehr geschickt auf den „Kampf gegen rechts“ und die „Brandmauer“ zur AfD gesetzt, auch durch die Social-Media-Kampagne ihrer Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek. Das war ein enormes Mobilisierungsthema unter Jungwählern. Die Linke erschien als die vermeintlich einzige Partei, die sich konsequent dem Rechtsruck entgegenstelle. Das hat auch den linken Teil potenzieller Grünen-Wähler angesprochen.
WELT: Zeigt dieser Wahlerfolg, dass sozialistische Parteien wieder im Kommen sind – oder ist das ein kurzfristiger Hype?
Jun: Gerade junge Wähler sind sehr von aktuellen Trends getrieben, eine langfristige Prognose ist da kaum möglich. Doch die Umverteilungsfrage ist, sofern sie weiterhin als sozioökonomischer Konflikt behandelt wird, für große Teile der Bevölkerung relevant. Wenn die Linke den Kampf um soziale Gerechtigkeit weiterhin so polarisiert und emotionalisiert, könnte der Erfolg anhalten.
Wichtig wird hierfür aber auch die Verfassung der Partei sein: Im Wahlkampf hat die Linke es geschafft, sich in der eigenen existenziellen Krise auf wenige gemeinsame Nenner zu konzentrieren. Es bleibt offen, ob die innerparteilichen Konflikte jetzt wieder aufbrechen.
WELT: In der neuen Fraktion sitzen Anti-Israel-Aktivisten und Freunde Israels. Teile der Fraktion haben sich zudem schon offen für Waffenlieferungen an die Ukraine gezeigt, obwohl dies im Wahlprogramm abgelehnt wird. Und mit der AfD könnte die Linkspartei die Aufhebung der Schuldenbremse für Aufrüstung oder Ukraine-Hilfen blockieren.
Jun: Im Wahlkampf hat die Linkspartei sich stark gegen Aufrüstung und jegliche Form der Militarisierung gestellt. Auch die Nato sieht sie sehr skeptisch. Ob sie sich in der Frage der Ukraine-Hilfe bewegen, muss die Linke beantworten.
Gerade die Politik gegenüber Israel und der Gaza-Krieg haben zu erheblichen Konflikten in der Partei geführt, die oftmals nur mit großer Anstrengung unterdrückt werden konnten. Das Thema ist hochemotional, geht der Partei bis an die Substanz. Der Parteiführung wird daran gelegen sein, es erst mal ruhen zu lassen.
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Linkspartei.
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