Sudscha ist verloren und dahinter beginnt freies Feld. Wer sich dort zu verschanzen versucht, riskiert sein Leben. Damit ist die Kursk-Offensive der Ukrainer vorbei, sagt Oberst Reisner ntv.de. Nun müssen sie sich gegen die russischen Verfolger wappnen.

Ntv.de: Herr Reisner, als die Stadt Sudscha in der Region Kursk von den russischen Truppen immer stärker bedrängt wurde, haben Sie gesagt: Wenn Sudscha fällt, ist die Offensive erledigt. Haben wir diese Situation jetzt?

Markus Reisner: Genau so ist es. Der Versorgungsknotenpunkt Sudscha in ukrainischer Hand wäre die einzige Möglichkeit gewesen, das eroberte Kursker Gebiet weiter zu halten. Weil die Stadt aufgrund ihres urbanen Charakters viele Möglichkeiten bietet, sich im Abwehrkampf zu verschanzen. Die Stadt haben die Ukrainer verloren, dahinter erstrecken sich nur mehr freie Felder bis zur ukrainischen Grenze. Da kann man sich nicht festsetzen, das wäre lebensmüde, selbstmörderisch. Und damit ist die Offensive beendet. Das werden Sie so direkt verständlicherweise nicht von den Ukrainern hören.

Was sagen die?

"Wir haben es geschafft, die Russen lange hinzuhalten, wir verzögern den Vormarsch auch weiterhin" - das ist das Narrativ der Ukrainer, während die russische Seite sagt, "Wir haben gewonnen." Natürlich möchte ich nicht ungefiltert das russische Narrativ übernehmen, aber rein militärisch nüchtern betrachtet ist die Kursk-Operation zu Ende. Wir sehen gerade die letzte Phase der russischen Seite, das Konsolidieren des gewonnenen Geländes, das Beseitigen des letzten Widerstandes und die Versuche, ukrainische Soldaten gefangenzunehmen.

Stichwort: Gefangennahme. US-Präsident Donald Trump erklärte in der vergangenen Woche, Tausende ukrainische Soldaten seien umzingelt und bat den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Verschonung der Gefangenen. Putin willigte ein, man werde die Ukrainer gut behandeln. Aber kein Frontbeobachter hat diese Umzingelung bislang orten können.

Die Meldung, bis zu 7000 ukrainische Soldaten seien eingeschlossen, entbehrt jeder Grundlage. Zwischen Sudscha und der Grenze befinden sich noch einige ukrainische Kräfte auf dem Rückzug. Ukrainische Verbände werden dort aufgelöst und ziehen sich zurück, zum Teil zu Fuß. Die könnten nur umzingelt werden, wenn den Russen eine Umfassung entlang der Grenze gelingt. Im Moment ist das nicht zu sehen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Ukrainer fluten zurück und werden von den eigenen Kräften jenseits der Grenze aufgenommen. Und ein weiteres wichtiges Indiz spricht eindeutig gegen das Narrativ der eingekesselten Ukrainer.

Die Russen haben keine Bilder?

Auf Ebene des Informationskriegs sehen wir das nicht, genau. Dazu müssten wir Fotos und Videos bekommen - von intensiven Kämpfen dieser ukrainischen Gruppierungen, von Hunderten, die in Gefangenschaft geraten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Sie erinnern sich an die Einnahme von Mariupol? In der eingeschlossenen Stadt wurden damals Hunderte Ukrainer gefangengenommen. Bilder zeigten Gefangene, in Kolonne marschierend. Man sah Soldaten, die gezwungen wurden, sich nackt auszuziehen, ihre Tätowierungen zu zeigen. Die Russen haben Mariupol medial vollkommen ausgeschlachtet. All das fehlt jetzt.

Was zeigen Bilder aus Kursk?

Kleinere Gruppen von Soldaten, versprengt im Gelände, getrennt von ihren Verbänden, die auf der Flucht gefangen genommen werden. Damit sind die Russen derzeit vor allem beschäftigt: zwischen Sudscha und der Grenze versprengte Ukrainer zu stellen. Wir sehen zudem viele getötete ukrainische Soldaten, die in den Straßen liegen. Leider gibt es auch Bilder von Erschießungen. In einem Fall zeigt eine Aufnahme mehrere Soldaten nach der Gefangennahme und ein weiteres Video zeigt dieselben Männer kurze Zeit später am Boden liegend mit hinter dem Rücken gefesselten Händen. Sie wurden offensichtlich von der russischen Seite erschossen.

Lange Zeit haben die Ukrainer ihr erobertes Gebiet im Raum Kursk recht zäh verteidigt. Dann ging ihnen die zentrale Versorgungsroute verloren, die der Feind unterbrochen hatte, und die Russen stießen massiv nach vorn. Was machte die Angreifer plötzlich so stark?

Die russische Armee hat Kursk zum Schwergewicht der Operationsführung gemacht. Auf operativer Ebene bedeutete das sicher, dass man dort Kräfte zugewiesen und Ressourcen verlagert hat. Mein Eindruck: Einige kostbare Drohnenteams der Russen etwa, die sie mit First-Person-View-Drohnen einsetzen, wurden zum Teil aus dem ostwärtigen Raum, also dem Donbass, in den Raum Kursk verlagert.

Drohnen spielen eine zentrale Rolle im Krieg, aber machten sie hier tatsächlich einen solchen Unterschied?

Die Drohnen haben den Ukrainern extrem zugesetzt, ja. Mit ihnen sind die Russen vor Wochen bereits so weit vorgestoßen, dass sie diese wichtigste Kursker Versorgungslinie nach Sudscha unterbrechen konnten. Nahezu jeder Panzer, jeder Lkw und jedes Auto wurden von russischen FPV-Drohnen gejagt. Letztlich brach die Front zusammen und die Russen konnten Stück für Stück vormarschieren und Gelände wieder in Besitz nehmen. Jetzt erschweren die Drohnen auch die Absetzbewegung der Ukrainer. Viel Gerät und Ausrüstung musste zurückgelassen werden. Einige ukrainische Soldaten berichteten von ihrer Fahrt von Sudscha aus bis zur Grenze und dann weiter nach Sumy. Aufgrund des russischen Drohneneinsatzes in diesem Gebiet standen die Chancen 50:50, dass sie diese Fahrt überleben.

Wenn Sie sagen, es musste so viel Gerät zurückgelassen werden: Ist das für die Russen noch gewinnbringend verwendbar?

Die Bilder von dort zeigen, dass viel Gerät bereits vor der physischen Inbesitznahme zerstört war. Wo immer ein Fahrzeug liegenblieb, haben die Russen diese mittels Aufklärungs-Drohnen erkannt und dann zerstört. Ein Video zeigt, wie ein M1 Abrams Panzer abtransportiert wird. Nützlich sind diese Geräte den Russen nicht mehr, aber sie fehlen den Ukrainern. Die Soldaten kommen praktisch kampfunfähig wieder zurück hinter die Grenze, weil sie nur ihr nacktes Leben retten konnten, nichts oder nur wenig an Ausrüstung und Waffen.

Wenn nun die Russen weiter massiv auf die Grenze vorrücken, wie gefährdet ist denn das ukrainische Territorium dahinter? Die Stadt Sumy ist nicht sehr weit entfernt. Wie groß ist die Gefahr, dass die russischen Truppen auf ukrainischen Boden vorstoßen und die Stadt angreifen?

Die Ukrainer versuchen, eine neue stabile Verteidigungslinie in einigen Kilometern Entfernung zur Front zu errichten. Neue Verteidigungsgräben und Stützpunkte.

Wie aufwendig ist das?

Sie können sich das in drei Phasen vorstellen: Zunächst nutzen die Verteidiger das Gelände, suchen günstige Positionen, um in Stellung zu gehen und mit eigenem Feuer die anrückenden Kräfte des Gegners abzuwehren. Phase 1. Anschließend richten sie sich zur zeitlich begrenzten Verteidigung ein, das ist Phase 2. Das heißt: Sie versuchen, das vorhandene Gelände zu verstärken, indem sie zum Beispiel Schützengräben ausheben, Minen legen oder Ähnliches. Damit können sie sich Zeit erkaufen, wenn der Gegner angreift. Die letzte Phase, Nummer 3, bedeutet das tatsächliche Einrichten der Verteidigungslinie. Schwere Baumaschinen errichten durchgängige Stellungssysteme, eingedeckte Bunker werden gebaut, Drachenzähne errichtet, man verlegt umfangreiche Minenfelder. Damit lässt sich der Gegner dann tatsächlich über lange Zeit aufhalten.

Wie weit sind die Ukrainer derzeit?

Im Moment richten sie sich zur zeitlich begrenzten Verteidigung ein.

Also Phase 2.

Genau, wir sehen zwar auch umfangreiche Stellungssysteme, aber die befinden sich weiter in der Tiefe, nicht in unmittelbarer Nähe der Grenze. Zum Teil wurden die schon vor Monaten eingerichtet. Darauf aufbauend versuchen die Ukrainer nun, weitere Stellungen auszuheben. Auch hier ist das Problem die Beobachtung durch die Russen mit Drohnen. Daraus resultieren dann Angriffe auf Baumaschinen, zerstörte Bagger, Grabungsarbeiten werden verhindert.

Wenn Sie sagen, weiter in der Tiefe befinden sich diese Stellungssysteme: Wie weit hinten ist das? Wie weit könnten die Russen vorstoßen, bevor sie dort abgefangen würden?

Wenn wir auf die Karte schauen, sehen wir Sudscha zehn Kilometer nordostwärts der Grenze. Von dort waagerecht Richtung Westen befindet sich die Ortschaft Basiwka. Die liegt schon auf ukrainischem Grund, und bis hierher sind die Russen schon vorgedrungen. Bis nach Sumy sind es dann noch einmal 40 bis 50 Kilometer und auf halber Strecke dorthin beginnt zum Teil stark bewaldetes Gebiet. In diesen Waldstücken hat sich die Masse der ukrainischen Verbände abgesetzt, weil es für die Verteidigung viel günstiger ist als das offene Gelände unmittelbar an der Grenze.

Man kann also rechnen: Ab der Grenze würden die Russen zunächst etwa auf 20 Kilometern zunächst offenes Gelände vorfinden und gut vorankommen. Ab da, etwa 20 Kilometer vor der Stadt, würden sie im bewaldeten und etwas höher gelegenen Gebiet auf ukrainische Stellungen treffen. Ich rechne nicht damit, dass die Russen sich in diesen Waldgebieten in Kämpfe mit den ukrainischen Verbänden verwickeln wollen. Das würde erst dann passieren, wenn Moskau es als günstig erachtet und genug Kräfte verfügbar hat. Derartige Anstrengungen sieht man momentan jedoch nicht.

Profitieren die Ukrainer im Donbass davon, dass so viele russische Drohnen-Teams nach Kursk abgezogen wurden?

Von Kupjansk aus nach Süden, Richtung Saporischschja, ist erkennbar, dass die Kämpfe bei den Hotspots der letzten Wochen nachgelassen haben. Bei Pokrowsk hat es sich etwas beruhigt, in Torezk konnten die Ukrainer einen Teil der Stadt zurückerobern. An den übrigen Frontabschnitten wird unverändert hart gekämpft. Das Ziel der Russen scheint vorerst erreicht. Die Ukrainer können kein russisches Territorium mehr als Faustpfand bei Verhandlungen einsetzen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke