Die Bundesregierung hält sich bedeckt. Weder zu geheimdienstlichen Erkenntnissen über einen möglichen Laborunfall im chinesischen Wuhan noch zur Rolle des Virologen Christian Drosten gibt es Antworten. Schon die Frage nach Drostens möglicher Beteiligung „zielt auf einen Sachverhalt ab, der den Schutz der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland berührt“, so die offizielle Antwort auf eine Anfrage von WELT.

Nach Berichten der „Neuen Zürcher Zeitung“, der „Zeit“ und der „Süddeutschen Zeitung“ rückt die Laborthese wieder verstärkt in den Fokus. Demnach untersuchte der Bundesnachrichtendienst (BND) im Auftrag des Kanzleramts bereits im Jahr 2020, ob das SARS-CoV-2-Virus aus einem Labor im chinesischen Wuhan stammen könnte. Die deutschen Nachrichtendienstler kamen dabei offenbar zu der Einschätzung, dass ein Laborunfall als Ursprung der Pandemie nicht ausgeschlossen werden kann. Grundlage dieser Erkenntnis war neben der Analyse öffentlicher Daten vor allem Material, das im Rahmen einer nachrichtendienstlichen Operation mit dem Codenamen „Saaremaa“ beschafft wurde.

Den Auftrag für die Operation erteilte 2020 das Kanzleramt unter der damaligen Regierungschefin Angela Merkel (CDU). Demnach soll BND-Präsident Bruno Kahl noch während der Regierungszeit von Angela Merkel das Kanzleramt persönlich über die nachrichtendienstliche Operation und die Bewertung des Dienstes informiert haben. Der BND bewertet die Laborthese den Medienberichten zufolge mit einer Wahrscheinlichkeit von „80-95 Prozent“. Das Kanzleramt entschied sich allerdings dazu, die Erkenntnisse unter Verschluss zu halten. Bestimmte genetische Merkmale des Virus deuten demnach eher auf eine Manipulation im Labor als auf eine natürliche Evolution hin. Auch die US-Geheimdienste haben ihre Einschätzungen angepasst und halten ein Laborleck nicht mehr für ausgeschlossen.

Ende vergangenen Jahres wurden Experten damit beauftragt, die Erkenntnisse zu untersuchen. Zu diesen Experten gehören der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lars Schade, und der Berliner Virologe Christian Drosten.

Genau das macht die Angelegenheit brisant. Denn die Bewertung des BND fiel in eine Zeit, in der breite Teile der Wissenschaftscommunity diese These als unwahrscheinlich oder abwegig bezeichneten. In einem gemeinsamen Statement mit 26 weiteren Wissenschaftlern, veröffentlicht im Februar 2020 in der Fachzeitschrift „The Lancet“, verurteilte Christian Drosten Verschwörungstheorien, die einen nicht-natürlichen Ursprung des Virus nahelegten.

Trotz dieser Entwicklungen weigert sich das Bundeskanzleramt, selbst einfachste Pressefragen von WELT zu beantworten. Mehrere Nachfragen dieser Redaktion zu möglichen BND-Erkenntnissen blieben auch nach mehrfacher Nachfrage inhaltlich unbeantwortet.

Bei Anfragen zu geheimdienstlichen Erkenntnissen heißt es lediglich: „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns hierzu derzeit nicht äußern.“ Auch zur Einstufung als Verschlusssache oder zum Umfang der Dokumente gibt es keine Antwort: „Die Bundesregierung nimmt dazu grundsätzlich nicht öffentlich Stellung.“ Spekulationen über Drostens mögliche Einsicht in BND-Erkenntnisse kommentiert die Bundesregierung ebenfalls nicht: „Zu Personalangelegenheiten äußern wir uns grundsätzlich nicht.“

„Generell gilt: Wenn ein Dokument als Verschlusssache eingestuft wird, wird dadurch sogleich der Personenkreis eingeschränkt, der das Dokument einsehen darf“, erklärt Jan-Hendrik Dietrich, Hochschullehrer für Sicherheitsverwaltungsrecht am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Sicher sei, dass man Drosten keinesfalls Quellen der nachrichtendienstlichen Erkenntnis offenlegen würde. Denn dadurch würden „Beschaffungskapazitäten und Fähigkeiten“ des BND preisgegeben. Oder anders ausgedrückt: Der BND würde seine Methoden und Quellen offenlegen.

In der Konsequenz bedeutet das, dass sich hier möglicherweise „zwei Logiken“ gegenüberstehen: die wissenschaftliche und die nachrichtendienstliche. „Aus wissenschaftlicher Sicht mag es logisch und sinnvoll sein, dass eine abschließende und fundierte Analyse nur unter Rekurs auf Rohdaten möglich ist. Aus nachrichtendienstlicher Sicht können diese Daten jedoch nicht herausgegeben werden, wenn dadurch ein Rückschluss auf ihren Ursprung möglich ist oder sie von einem anderen Nachrichtendienst stammen, der die Weitergabe verbietet“, so Dietrich. „Das Dilemma ließe sich nur teilweise lösen, wenn man Herrn Drosten einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen würde (sofern er sie nicht bereits hat). Denn dann dürfte er zwar grundsätzlich die Daten einsehen, aber nicht darüber sprechen.“

Ob Drosten einer Sicherheitsprüfung unterzogen wurde oder Zugang zu geheimen Informationen hatte, lässt das Kanzleramt jedoch offen. Nachdem nun durch Medienberichte Geheimdiensterkenntnisse bekannt wurden, die laut Kanzleramt wichtige Belange des Staates gefährden könnten, drängt sich die Frage auf, ob die Bundesregierung Ermittlungen zu dem Leck eingeleitet hat. Die Bundesregierung erklärt lediglich knapp, dass sich aus den Berichten „kein Hinweis auf die Veröffentlichung einer Verschlusssache“ ergebe.

Warum das Kanzleramt jedoch keine inhaltlichen Fragen beantwortet, wenn Berichte anderer Medien doch keine Verschlusssachen veröffentlicht hätten, bleibt unklar.

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