Die Brandmauer im EU-Parlament ist eingestürzt. Die europäische Fraktion der CDU sucht Mehrheiten mit Parteien des rechten Rands, auch mit der AfD. Bei der Abstimmung über das Lieferkettengesetz droht sie, es nochmal zu tun. Die Konservativen könnten sich damit ins eigene Knie schießen.
Die Skrupel sind weg: Die Konservativen der Europäischen Volkspartei (EVP), die politische Heimat von CDU und CSU in Brüssel, drohen offen damit, die Änderungen im EU-Lieferkettengesetz notfalls mit den Stimmen rechtsradikaler Parteien zu beschließen. Die Drohungen lassen Grüne, Sozialdemokraten und Teile der Liberalen aufhorchen. Denn die EVP schlug zuvor schon einige Löcher in die europapolitische Brandmauer gegen Rechtsaußen. Die Brandmauer wird in der EU "cordon sanitaire" genannt und nimmt damit in der deutschen Übersetzung die Form eines "Sperrgürtels" an.
So hat die EVP bereits für die Entschärfung der Entwaldungsverordnung mit Rechtsextremen gestimmt, im Fall einer symbolischen Venezuela-Resolution sogar gemeinsam mit ihnen einen Antrag eingereicht. Darunter waren auch AfD-Abgeordnete. Die europäischen Konservativen haben sich ganz offensichtlich vorgenommen, den "Sperrgürtel" niederzureißen. Um beim deutschen Bild zu bleiben: Die Brandmauer bekam so viele Risse, dass sie eingestürzt ist. Sie dient der EVP nicht mehr als Festung für demokratische Werte, sondern verkommt zum billigen Druckmittel gegenüber den übrigen Parteien der politischen Mitte.
Machtbewusst nennt der stellvertretende EVP-Vorsitzende Tomas Tobé seine Partei den "Königsmacher", wenn es um die Gesetzgebung des Europäischen Parlaments geht. Das heißt: Die EVP allein bestimmt, wem sie das Privileg zukommen lässt, mit ihr über Gesetze abzustimmen. Nach dem Rechtsruck bei der Europawahl kann sie sich entscheiden - es gibt immer eine Alternative dazu, mit Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten Gesetze auszubaldowern. Auf der anderen Seite des Plenarsaals winken nun drei rechte Fraktionen, zwei von ihnen sind ein Sammelbecken für prorussische und europafeindliche Parteien; von der deutschen AfD über die PVV des Niederländers Geert Wilders bis hin zum RN von Marine Le Pen in Frankreich. Tobé und seine Mitstreiter scheinen keinerlei Problem damit zu haben, diese Parteien auf den Thron der Mitbestimmung zu hieven.
Konservative brechen ihre selbst aufgestellten Regeln
Dabei bricht die EVP nicht nur mit den Regeln des "cordon sanitaire", sondern auch mit den von ihr selbst aufgestellten. Immer wieder betonte der EVP-Vorsitzende Manfred Weber vergangenes Jahr: "Pro Europa, pro Rechtsstaat, pro Ukraine - das sind die Grundpfeiler, auf denen diese Brandmauer steht." Damit begründete er eine Zusammenarbeit mit den Fratelli d’Italia der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni, die in der rechtsnationalen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer sitzt. Meloni und ihre Parteifreunde erfüllen auf europapolitischer Ebene bislang die von Weber genannten Bedingungen - die AfD und ihre Fraktion Europa der Souveränen Nationen aber ganz bestimmt nicht. Ziel der Rechtsradikalen dort ist wahlweise der Austritt oder aber die Zerstörung der EU. Für ihre Drohgebärden bei Abstimmungen opfert die EVP also das Ziel, im Parlament mit der demokratischen Mitte an der gemeinsamen Zukunft der Europäischen Union zu arbeiten.
Natürlich kann niemand den Konservativen vorwerfen, ihre politischen Vorstellungen bei der Gesetzgebung zu verwirklichen. Zudem war die Brandmauer im Parlament stets lose, da es keinen Fraktionszwang gibt. Eine punktuelle Zusammenarbeit mit Rechtsaußen mag es deshalb an mancher Stelle schon früher gegeben haben. Allerdings sind die systematischen Erpressungsversuche der EVP neu. Vor der Europawahl haben europäische Konservative die Rechtsextremen nie als mögliche Partner derart aufgewertet. Der Fall der Brandmauer bringt Parteien der Mitte derweil in eine verzweifelte Situation. Sie können nur verlieren. Stimmen sie mit der EVP, beschließen sie Gesetze, die sie nicht wollen. Stimmen sie gegen die EVP, werden sie von der gesamten Gesetzgebung ausgeschlossen.
Im Fall des Lieferkettengesetzes bemängeln die Grünen und die Sozialdemokraten, die Konservativen hätten ihnen bislang nicht einmal Gesprächsangebote auf den Tisch gelegt. Das erinnert an die Verhandlungsführung von CDU-Chef Friedrich Merz, der die Grünen mit dem Entwurf des Schuldenpaktes vor vollendete Tatsachen stellte, denen diese doch gefälligst zustimmen mögen. Die EVP muss sich schlechten Stil vorwerfen lassen. Wie soll es eine Kompromissfindung ohne ordentliche Gespräche geben? Stimmen die Vorwürfe der europäischen Grünen und Sozialdemokraten, scheint die EVP gar keine Bereitschaft zu zeigen, mit ihnen einen Konsens zu suchen.
Auch die Wähler könnten ihre Skrupel verlieren
Sicherlich hat die EVP genügend Gründe, selbstbewusst aufzutreten: Sie wurde nach der Europawahl erneut stärkste Partei; neben Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kommt auch der designierte deutsche Kanzler Merz aus ihren Reihen. Doch sie muss aufpassen, dass die Aussicht auf das Durchregieren in Europa sie nicht zu überheblich macht. Falls sie ihre Rolle als "Königsmacher" weiter so versteht, Rechtsextreme als Partner auf Augenhöhe aufzuwerten, könnte sie bald selbst den Schaden davontragen. Denn sie schenkt den Parteien am rechten Rand damit Aufmerksamkeit und normalisiert deren Positionen.
Wenn die Brandmauer eingestürzt und der Sperrgürtel niedergerissen ist – warum sollten die Wähler dann noch Skrupel haben, ihr Kreuz künftig bei den Rechtsextremen statt bei den Konservativen zu machen? Aus den Drohgebärden der EVP gegenüber den Mitte-Parteien kann so ganz schnell eine reale Bedrohung für die Konservativen selbst werden.
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