Breitbeinig stehen die Sicherheitskräfte vor dem blaugrünen Tor. Die Maschinenpistole im Anschlag, ihre Gesichter mit einer Maske verdeckt. „Izaguirre Rancho“ steht in weißen Buchstaben an der Einfahrt zu der abgelegenen Ranch, darunter sind zwei springende Pferde und ein Hufeisen aufgemalt. Daneben klebt ein Papier der Staatsanwaltschaft: Beschlagnahmtes Gelände.
Was hinter den Mauern der inzwischen schwer bewachten Anlage passiert ist, erschüttert selbst die vom Drogenkrieg so schwer heimgesuchten Mexikaner. Von einem Todeslager ist da die Rede, sogar von einem „mexikanischen Auschwitz“, wie einige Medien schreiben. Von Frauen und Mädchen, die grausam gequält und zu Menschenversuchen missbraucht worden seien.
In der mexikanischen Provinz haben Ermittler dieses mutmaßliche Todeslager der Drogenmafia gefunden. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Macht der Kartelle in Mexiko – und die Hilflosigkeit der linkspopulistischen Regierungspartei Morena, deren Sicherheitsbilanz katastrophal ist.
Mexiko pocht auf seine Souveränität. Aber Präsidentin Claudia Sheinbaum steht nun enorm unter Druck: Die USA unter Präsident Donald Trump werfen ihr schon lange vor, die Kontrolle über das Land an die Kartelle verloren zu haben.
Herrenlose Kleidung und Knochenreste
Die mexikanische Staatsanwaltschaft versucht derweil, das Grauen in messbare Parameter einzuordnen. Sie veröffentlicht Bilder von aufgefundenen Resten verschwundener und mutmaßlich in dem Lager getöteter Menschen. Vielleicht, so die Hoffnung, gibt es irgendwo in Mexiko oder in Mittelamerika eine verzweifelte Familie, die eines der Fundstücke erkennt.
Nun schaut das ganze Land auf die ersten Erkenntnisse der Ermittler, die herausfinden müssen, wem zum Beispiel die 154 Paar herrenlose Schuhe gehören, die in dem Lager gefunden wurden.
Jedes Kleidungsstück, jeder Rucksack erhält eine Nummer, einen Buchstaben und wird erkennungsdienstlich festgehalten. Am Ende der ersten Ermittlungswelle sind es 1308 Objekte, die Eingang in die Akten finden.
Schauplatz ist die abgelegene „Izaguirre Rancho“ in Teuchitlan westlich von Guadalajara in Zentralmexiko. Nur eine Autostunde entfernt sollen im kommenden Jahr im Stadion von Guadalajara Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft angepfiffen werden. Seit Jahren gingen bei den Behörden anonyme Hinweise zu der Ranch ein, Konsequenzen hatten diese offenbar nicht.
„Betreiber“ des Lagers war nach bisherigen Erkenntnissen das Jalisco-Kartell Neue Generation (CJNG), eines der mächtigsten und einflussreichsten Drogenkartelle Mexikos. Auf der Ranch, so vermuten die Ermittler, wurden frisch rekrutierte Bandenmitglieder zu Auftragskillern ausgebildet, Rivalen gefoltert und Frauen und Mädchen vergewaltigt.
„Sie haben eine Reihe von Knochen gefunden, kleine Knochenstücke“, sagte Generalstaatsanwalt Alejandro Gertz Manero in einer Pressekonferenz. Wem sie gehören, müssen nun Gerichtsmediziner herausfinden. In einem Land, in dem 124.000 Menschen als spurlos verschwunden gelten, dürfte das eine gigantische Aufgabe werden.
Grenzstreit mit den USA
Das Lager wurde just in einer Zeit entdeckt, in der Mexiko mit dem Nachbarland USA einen Streit über die Frage austrägt, ob das Land hart und effizient genug die Drogenkriminalität vorgeht. US-Präsident Donald Trump hatte der Regierung in Mexiko-Stadt im Wahlkampf vorgeworfen, die Kontrolle über das Land an die Kartelle verloren zu haben, und die Drogenbanden zu terroristischen Organisationen erklärt.
Der mexikanischen Regierung warf er sogar vor, ein Verbündeter der Kartelle zu sein. Mit der Androhung von Strafzöllen will Trump Mexiko dazu bewegen, den Schmuggel von Drogen wie Fentanyl und Migranten in Richtung der USA zu unterbinden.
In Mexiko kommen die Vorwürfe nicht gut an. Das Land habe sicher ein Problem mit der Korruption, sagte der mexikanische Politikwissenschaftler Carlos Perez Ricart der britischen Zeitung „Guardian“. „Aber die mexikanische Regierung ist kein Verbündeter des organisierten Verbrechens. Und diejenigen, die das behaupten, lügen oder kennen oder verstehen Mexiko einfach nicht.“
Klar ist: Präsidentin Sheinbaum hat enorme Probleme von ihrem Vorgänger geerbt. In der sechsjährigen Amtszeit des linkspopulistischen Präsidenten Andres Manuel Lopez Obrador (2018-2024) war die Zahl der Tötungsdelikte auf die Rekordmarke von fast 200.000 angestiegen. Sein toleranter Kurs gegenüber den Kartellen – zusammengefasst in seinem Motto „Umarmen statt schießen“ – endete in einem Desaster und einem ungeheuren Machtzuwachs der organisierten Kriminalität. Rund 50 Journalisten, von denen die meisten über die Korruption im Land berichten, wurden ermordet.
Lopez Obrador selbst begrüßte während seiner Amtszeit die Mutter des in den USA inhaftierten legendären Drogenbosses „El Chapo“ per Handschlag und mit einem Lächeln. „Verbrechen und fehlende Gerechtigkeit haben unsere Heimat zu einem blutigen Vaterland“ werden lassen, warnt die mächtige katholische Kirche in Mexiko.
Strategiewechsel in Mexiko
Die amtierende Präsidentin Sheinbaum hat verstanden, dass die Einschätzung Trumps zutreffender ist als die Realitätsverweigerung ihres Vorgängers. Nur offen zugeben kann sie es nicht, weil sie damit ihren Mentor und Parteifreund bloßstellen und die eigene Regierungspartei Morena entlarven würde. Also präsentiert Sheinbaum sich offiziell weiterhin als Verteidigerin der Souveränität, akzeptiert aber Unterstützung der USA beim Kampf gegen die Kartelle und illegale Migration.
Rund zwei Monate nach Trumps Amtsantritt hat die mexikanische Regierung einen Strategiewechsel eingeleitet. Sheinbaum hat der US-Drogenfahndung neue Kompetenzen zugestanden und Kooperationen zwischen den mexikanischen und amerikanischen Behörden verstärkt.
Aus „Gründen der nationalen Sicherheit“ wurden kürzlich 29 Drogenbosse in die USA ausgeliefert. Um illegale Migration und den Drogenschmuggel zu bekämpfen, ist zudem das Grenzregime verschärft worden. In der „Operation Nordgrenze“ machten mexikanischen Behörden etwa neue Grenztunnel aus, die von Mexiko in die USA führten.
Für den Politikwissenschaftler Evan Ellis gibt es ohnehin keine Alternative zu einer engen Kooperation beider Länder: „Für mich sind die Vereinigten Staaten und Mexiko durch eine ‚Ehe‘ aus Geografie, Familie und wirtschaftlichen Bindungen verbunden, wobei die Handlungen des einen den anderen tief greifend beeinflussen und die Kosten einer ‚Scheidung‘ inakzeptabel sind“, sagt der Professor für Lateinamerikaforschung am Strategic Studies Institute des U.S. Army War College WELT.
Selbst auf internationaler Bühne kommt es inzwischen zu ganz neuen Szenen. Als Kubas Außenminister Bruno Rodriguez in dieser Woche kritisierte, ein im Golf von Mexiko kreuzendes US-Militärschiff sei „eine Bedrohung für die Sicherheit und den Frieden in Lateinamerika und der Karibik“, konterte Sheinbaum die Worte ihres ideologischen Verbündeten kurz und knapp: Sie sehe darin kein Problem.
All das spricht dafür, dass Sheinbaum erkannt hat, dass eine engmaschige Zusammenarbeit mit dem lautstark auftretenden Trump notwendig ist. Das zeigt einmal mehr der Fall des Todescamps in Teuchitlan.
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.
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