Es ist ein Satz, den die meisten wohl überlesen haben: „Aus dem ‚Amtsermittlungsgrundsatz‘ muss im Asylrecht der ‚Beibringungsgrundsatz‘ werden“, steht im Kapitel „Migration“ des elfseitigen Sondierungspapiers von Union und SPD.
Doch hinter dieser unscheinbaren juristisch-nüchternen Formulierung versteckt sich etwas Revolutionäres: Asylbewerber sollen dadurch stärker als bisher, möglicherweise zu stark, in die Pflicht genommen werden, selbst darzulegen, wieso sie Asyl verdienen. Ungenügende Angaben könnten ihnen zum Verhängnis werden – selbst wenn sie tatsächlich schutzbedürftig sind. Die Union erhofft sich mit diesem Vorstoß höhere Ablehnungsquoten und eine Entlastung der Gerichte – Juristen, mit denen WELT gesprochen hat, halten die geplante Regelung dagegen für rechtswidrig.
Denn im Verwaltungsrecht, zu dem auch das Asylrecht gehört, gilt bisher, dass Behörden und Gerichte den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln müssen. Sie sind an das Vorbringen der Beteiligten nicht gebunden, vielmehr hat der Vorsitzende Richter sogar darauf hinzuwirken, dass ungenügende Angaben ergänzt werden, heißt es in der Verwaltungsgerichtsordnung. „Der Amtsermittlungsgrundsatz ist auf das Ideal einer objektiven Wahrheitsfindung gerichtet“, erklärt der Jenaer Migrationsrechtler Frederik von Harbou.
Den Beibringungsgrundsatz kennt man dagegen aus dem Zivilrecht, wo sich nicht Bürger und Staat, sondern Private gegenüberstehen. Hier müssen die Parteien selbst alle relevanten Informationen vortragen. Auf ein Asylverfahren übertragen würde das bedeuten, „dass der Richter einfach nur vorn sitzt und sich anhört, was der Asylbewerber vorträgt und nur auf Grundlage dieses Vortrages entscheidet, ob der Asylantrag Erfolg oder nicht. Alles, was der Richter ansonsten über das Land weiß, würde ausgeblendet“, sagt Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht in Konstanz.
„Hintergrund ist wohl, dass die Asylklageverfahren sehr lange dauern. Die Hoffnung ist wahrscheinlich, dass man das durch die Umstellung beschleunigt“, vermutet er. Man denke sicherlich an eine Arbeitserleichterung für das Gericht, weil weniger ausgeforscht werden müsse, da in der Begründung von Ablehnungsentscheidungen weniger Argumentationsaufwand betrieben werden müsse. „Das kann auch dazu führen, dass die Ablehnungsquote steigt.“
In einigen Bereichen des Verwaltungsrechts, wie bei der Kriegsdienstverweigerung, bei der Beantragung von Elterngeld oder im Steuerrecht, wurde der Untersuchungsgrundsatz bereits modifiziert, beispielsweise durch besondere Mitwirkungspflichten der Antragsteller oder spezifische Vermutungsregeln (das heißt, dass es für einzelne Tatsachen eine Beweislastumkehr gibt). Von Harbou sagt, ihm wäre allerdings nicht bekannt, dass es eine Spezialmaterie des Verwaltungsrechts gebe, in der der Untersuchungsgrundsatz völlig aufgehoben und durch den Beibringungsgrundsatz ersetzt wurde.
Dieser krasse Systembruch; wäre er denn überhaupt rechtmäßig? Von Harbou weist darauf hin, dass der Amtsermittlungsgrundsatz auf das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsprinzip zurückgeht: Neben der Wahrheitsfindung diene er auch dem „Grundrechts- und besonders Gleichheitsschutz“ der von Verwaltungsentscheidungen Betroffenen. Auch wurde der Grundsatz vom Europäischen Gerichtshof dem „Recht auf eine gute Verwaltung“ zugeordnet, das in der EU-Grundrechtecharta verankert ist.
Thym sagt, dass das Europarecht zwar keine Vorgabe mache, welcher Grundsatz im Asylverfahren angewendet werden soll. In einer EU-Richtlinie über die Anerkennung von Flüchtlingen heißt es einerseits, dass es die Pflicht der Antragsteller sei, so schnell wie möglich alle zur Begründung ihres Schutzantrags erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Nach dem deutschen Asylgesetz sind Asylsuchende bereits verpflichtet, Datenträger auszuhändigen, die für die Feststellung ihrer Identität von Bedeutung sein könnten, sie müssen auch die Aufnahme von Fotos und Fingerabdrücken zu erdulden.
Andererseits fordert die EU-Richtlinie von den Mitgliedstaaten, die Anträge individuell zu prüfen und dabei „alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind“ zu berücksichtigen. Unter Heranziehung der Grundrechte bedeutet das laut Thym, dass Gerichte „evident bekannte“ Informationen nicht ignorieren dürfen.
Als Beispiel nennt der Jurist einen Flüchtling aus Syrien, der im Jahr 2016 Asyl wegen politischer Verfolgung beantragt, aber nicht vorträgt, dass in seinem Heimatland ein Bürgerkrieg herrscht. Auch wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder das Gericht ihm nicht glauben, dass er politisch verfolgt wird, könnten sie seinen Asylantrag dann nicht einfach ablehnen, ohne zu prüfen, ob er zumindest subsidiären Schutz wegen Bürgerkrieg bekommen könnte. Denn 2016 war evident bekannt, dass in Syrien ein Bürgerkrieg tobt.
Thym räumt aber auch ein, dass es sicher eine „große Spannbreite“ gebe zwischen evident bekannten Informationen, die man nicht ausblenden könne, und solchen, von denen man in Zukunft erwarten könne, dass sie der Asylbewerber selbst vorträgt und es andernfalls zu seinen Lasten gehe. Er regt an, über Vermutungsregeln nachzudenken, „also, dass der Gesetzgeber landesspezifisch konkretisiert, dass man davon ausgeht, dass in bestimmten Konstellationen kein Schutz vorliegt“.
Von Harbou befürchtet dagegen, dass durch die Ausweitung der Mitwirkungspflichten oder die Einführung neuer Vermutungsregeln die Entscheidungspraxis zur Flüchtlingsanerkennung noch weiter, als es bereits der Fall sei, divergieren würde und neue Ungleichbehandlungen entstünden.
Winfried Kluth, Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration, schreibt in einem Beitrag auf dem „Verfassungsblog“, dass durch die Änderung der Verfahrensgrundsätze vor allem solche Personen zusätzlichem Aufwand ausgesetzt würden, die aus Ländern oder Lebenslagen kämen, die bislang wenig oder kontrovers dokumentiert seien. Überall dort, wo es eine klare Lagebeurteilung gebe, dürften die Auswirkungen dagegen „überschaubar“ sein.
„Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz sollte nicht davon abhängen, wie detailliert eine Person beispielsweise zur politischen Situation und Gefahren im Heimatland vortragen kann“, meint auch von Harbou. Hierzu gebe es aus guten Gründen allgemein anerkannte Erkenntnisquellen wie Berichte des Auswärtigen Amts oder von NGOs, auf die sich nach dem Beibringungsgrundsatz der Antragsteller aber ausdrücklich berufen müsste.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2013 in einem Beschluss bereits angedeutet, dass die Verteilung der Beweislast den Schutz grundrechtlicher Gewährleistungen nicht leerlaufen lassen dürfe. Selbst in Verfahren, in denen der Beibringungsgrundsatz gilt, könne den Staat eine „sekundäre Darlegungslast“ treffen, wenn er Wissen hat, das dem Bürger unzugänglich ist.
Es bleibt der Eindruck, dass Asylbewerber künftig also vor allem einen guten Anwalt brauchen, der weiß, was man alles vortragen muss – oder ein bisschen Glück, dass sie an einen Richter geraten, der sich nicht allzu ahnungslos stellt.
Vor diesem Hintergrund erscheine die Forderung aus dem Sondierungspapier als „verfassungs- und europarechtlich weder durchdacht noch durchführbar“, resümiert von Harbou.
Wie kam der Satz überhaupt in das Sondierungspapier? Aus Unionskreisen war zu hören, dass ihn der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hinein verhandelt hat. Dieser fordert seit Jahren eine große Asylreform und notfalls sogar eine Grundgesetzänderung, um die Zuwanderungszahlen zu begrenzen. Vor der Wahl erklärten führende Unionspolitiker immer wieder, die Bürger seien es leid in Hinblick auf Migration zu hören, rechtlich ginge dieses oder jenes nicht – die Devise lautete: Einfach mal machen!
Umso verwunderlicher ist es, dass die Sozialdemokraten den Satz in seiner Absolutheit mitgetragen haben. Schließlich wurden sie im Wahlkampf nicht müde, der Union zu erklären, wie deren Pläne gegen geltendes Recht verstoßen würden.
Der bisherige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese, der in den Koalitionsverhandlungen das SPD-Team in der wichtigen Arbeitsgruppe „Innen, Recht, Migration und Integration“ leitet, sagt auf Anfrage von WELT: „Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, Asylsuchende bei der Mitwirkung im Verfahren stärker zu beteiligen.“
Die Formulierung im Sondierungspapier müsse in den Koalitionsverhandlungen konkreter ausgestaltet werden. Dabei sei insbesondere darauf zu achten, „dass die Umsetzung im Einklang mit europarechtlichen Vorgaben ist“. Man darf also gespannt sein, was von dem großen Wurf am Ende übrigbleibt.
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