Die russisch-amerikanischen Verhandlungen werden der Ukraine keinen Frieden bringen, sagt der estnische Ex-General Riho Terras. Sieben Jahre lang war er Befehlshaber der estnischen Verteidigungskräfte. Seit 2020 sitzt Terras für die konservative Partei Isamaa im Europäischen Parlament. Er ist Vizevorsitzender des EU-Verteidigungsausschusses. Terras fordert, die Europäer müssten Kiew endlich die nötige Hilfe zukommen lassen. Die Ukraine brauche aber etwas anderes als westliche Friedenstruppen.

ntv.de: Russland hat für den Herbst ein Manöver an der Grenze zu den baltischen Staaten angesetzt. Mit grenznahen Manövern hat auch der Überfall auf die Ukraine begonnen. Wie groß ist die Gefahr, dass Russland die baltischen Staaten angreift?

Riho Terras: Es gibt das Risiko eines russischen Angriffs auf Nato-Territorium, aber nicht nur für die baltischen Staaten. Finnland etwa hat eine 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland. Über Furcht kann man in Estland aber nicht sprechen - wir sagen nur, dass wir unsere Verteidigung gemeinsam mit den Nato-Partnern für den Ernstfall vorbereiten müssen. Am Mittwoch hat die estnische Regierung entschieden, nächstes Jahr fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. 2023 war Estland der größte Waffen- und Munitionskäufer auf dem europäischen Markt. Wir sind uns sicher: Wenn alle anderen das auch so machen, wird Russland nicht wagen, anzugreifen.

Was sagen Sie zu Mitgliedstaaten wie Spanien oder Italien, die nicht einmal zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft in die Verteidigung investieren?

Diese Länder müssen verstehen, dass die estnischen Rentner, Kinder und Arbeitslosen genauso viel Geld vom Staat für die soziale Sicherung brauchen wie die in Spanien und Italien. Der estnische Staat investiert trotzdem einen wesentlich größeren Anteil seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung. Wir müssen in Europa auf mehr Fairness und die Verteilung der Lasten bei den Verteidigungsausgaben drängen. Ländern wie Spanien oder Italien, die geografisch weiter entfernt von Russland sind, muss klargemacht werden, dass sie auch betroffen sind, falls an der Nato-Ostflanke etwas passiert.

Was brauchen die Europäer aus Ihrer Sicht, um die Nato-Ostflanke sichern zu können?

Erstens müssen wir viel Geld investieren. Zweitens müssen wir gemeinsam in die Fähigkeiten investieren, die in Europa komplett fehlen, wie die Luftraumverteidigung, die Satellitenkommunikation und das Nachrichtenwesen. Das alles ist bislang ausschließlich durch die USA abgesichert. Drittens muss jedes Land dafür sorgen, die eigene Verteidigungsfähigkeit so auszubauen, dass die Nato-Ziele erreicht werden, vor allem bei der Munitionsproduktion.

Nach einem möglichen Waffenstillstand muss auch die ukrainische Pufferzone gesichert werden. Abzüglich ukrainischer Truppen berechnen die Militärexperten Aldo Kleemann und Claudia Major dafür eine westliche Kontingentstärke von etwa 150.000 Soldaten. Um ständig einsatzbereit zu sein, müssten drei solcher Kontingente rotieren – der Westen müsste also 450.000 Soldaten entsenden. Wie sehen Sie das?

Das ist aus meiner Sicht Blödsinn, weil es komplett an der Realität vorbeigeht. 900.000 Mann kämpfen momentan in der Ukraine gegen Russland. Diese ukrainischen Soldaten haben bereits dafür gesorgt, dass Russland die Hauptstadt Kiew noch immer nicht einnehmen konnte. Diese ukrainischen Soldaten müssen weiter ausgebildet werden und kampfbereit sein. Die Ukraine braucht die westliche Unterstützung in den Bereichen, die ich genannt habe: Luftraumverteidigung, Satellitenkommunikation und Nachrichtenwesen.

Aber zumindest in diesen Bereichen würde es für die Ukraine schwierig ohne die USA, oder?

Wer sagt, ohne Amerika gehe es nicht, hat nicht verstanden, was die Ukrainer im Fall einer Kapitulation aufgeben würden – und wie erbittert sie seit Jahren gegen Russland kämpfen. Die Ukrainer werden nicht aufgeben, der Krieg wird weitergehen. Die Europäer können ihnen durch ihre Hilfe eine bessere Position verschaffen. Das wird ohne die USA schwierig und unangenehm, aber es gibt keine anderen Möglichkeiten. Präsident Wladimir Putin wird sich nur mit der Kapitulation der Ukraine zufriedengeben. Das kommt nicht infrage.

Sie sind demnach sicher, dass die Ukrainer nicht aufgeben werden, egal, was Putin mit seinem US-Amtskollegen Donald Trump offiziell vereinbart, um Frieden zu schaffen?

Die Ukrainer werden nicht aufgeben, solange die Unabhängigkeit der Ukraine nicht gewährleistet ist. Da bin ich mir sicher. Genau das ist aber das Ziel Putins: ein russisches Regime einzuführen, das die gesamte Ukraine kontrolliert. Deshalb sehe ich keine guten Aussichten auf Frieden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird vielleicht bereit sein, gewisse ukrainische Territorien an Russland abzugeben. Er könnte unter gewissen Bedingungen einem Waffenstillstand zustimmen. Aber er wird nicht damit einverstanden sein, dass Russland bestimmen wird, wie viele Soldaten wo in der Ukraine stationiert sind und welche Waffen sie kaufen.

Gibt es in Europa denn bereits vielversprechende Projekte für die Luftraumverteidigung, die Satellitenkommunikation und das Nachrichtenwesen?

Nein, dafür aber vielversprechende Wörter. Das ist das Problem: Die EU-Kommission hat gerade ein Weißbuch zur gemeinsamen Verteidigung herausgegeben, aber das ist nur ein Papier. Falls die europäischen Staats- und Regierungschefs es nicht ernst nehmen und endlich mehr in Verteidigung investieren, bleibt es nur ein Papier. Jetzt müssen Nägel mit Köpfen gemacht werden. Noch sprechen wir nur darüber und nutzen schöne Worte. Das haben wir nach Russlands Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 so gemacht und schon 2008, als Russland Georgien angegriffen hat. Europa ist im tiefen Koma. Ich hoffe, der Komapatienten hat den Weckruf jetzt gehört. Neben den baltischen haben auch die nord- und osteuropäischen Staaten immer wieder vor Russland gewarnt. Sie wurden in Brüssel aber nicht gehört. Hoffentlich wird die Dringlichkeit jetzt erkannt, auch von Ländern, die weiter weg von Russland liegen.

Wie kann man Putin glaubhaft abschrecken?

Mit mehr Truppenstärke, Panzer und Raketen. Die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland müssen komplett gekappt werden. Putin wird das ansonsten nicht verstehen. Wir Europäer müssen aufhören, Eiskunstlauf zu betreiben, wenn Putin Eishockey spielt.

In Deutschland denken CDU-Politiker bereits laut über die Rückkehr zu russischen Gaslieferungen nach, falls in der Ukraine die Waffen schweigen sollten.

Das ist ein Verrat an den internationalen Partnern Deutschlands. Wer so etwas sagt, versteht die Welt gar nicht. Billiges Gas aus Russland hat Deutschland süchtig gemacht. Es wäre auch schlecht für die deutsche Wirtschaft, sich wieder an russische Energielieferungen zu koppeln. Russland hat gezeigt, dass es kein zuverlässiger Lieferant ist. Deutschland brächte sich damit in eine schlechte Situation. Die Abhängigkeit von russischer Energie kann man mit der Situation vergleichen, sich an einem kalten Wintertag in die Hose zu pinkeln: Für eine Sekunde wird es warm, aber danach wird es gefährlich.

Ist auf die Nato im Konflikt mit Russland überhaupt noch Verlass, nachdem Trump offen damit gedroht hat, Europa militärisch fallen zu lassen?

Trump hat der Allianz geschadet, aber wir sind noch nicht hundertprozentig raus. Bereits vor Trumps Amtsantritt hätten die Europäer viel mehr für ihre Verteidigung tun müssen. Vieles kommt zu spät, aber wir müssen jetzt handeln. Die EU hat die Dringlichkeit in meinen Augen noch immer nicht erkannt. Sie hätte für die Vergabe der 150 Milliarden Euro aus ihrem neuen Verteidigungsfonds Regeln aufstellen müssen, zum Beispiel: Falls ein Mitgliedstaat nicht einen gewissen Prozentsatz in die Verteidigung investiert hat, bekommt er kein Geld aus dem Fonds. Aber mit dieser Position konnte ich mich nicht durchsetzen. Auch bezüglich der Ukraine-Hilfen gibt es Kämpfe mit Ländern wie Spanien, Italien, Portugal und Frankreich. Die vier Länder haben zusammengenommen weniger an die Ukraine gezahlt als Dänemark. Italien etwa hat die Ukraine bislang mit zwei Milliarden Euro unterstützt. Estland hat eine wesentlich geringere Wirtschaftskraft, aber die Ukraine mit einer Milliarde unterstützt. Die Lastenverteilung ist in Europa komplett aus dem Gleichgewicht.

Mit Riho Terras sprach Lea Verstl

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