Die Europäer sind im Gipfelrausch, ein Spitzentreffen jagt das nächste. Brüssel, London, Paris –mittlerweile finden die Treffen zeitweilig sogar mehrmals in der Woche statt. Die EU-Spitzen stehen unter Stress: Sie sehen sich als die letzten wahren Freunde der Ukraine und wollen Kiew im Überlebenskampf gegen Russland beistehen. Gleichzeitig müssen sich die Europäer im Eiltempo darauf vorbereiten, dass die US-Regierung unter Präsident Donald Trump künftig immer weniger für die Verteidigung Europas tun wird.
Die Lage in der Europäischen Union ist so ernst wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte. Im Frühjahr 2010 stand der Euro kurz vor dem Aus – das war schon eine existenzielle Krise. Aber jetzt droht ein Krieg. Schon 2030 könnte Russland ein EU-Land angreifen, lautet die düstere Prognose der Europäischen Kommission. „Die Geschichte wird uns Untätigkeit nicht verzeihen“, schreibt die Behörde in einem neuen Strategiepapier.
Und was tut die Europäische Union? Zwölf Stunden lang bis in die Nacht zum Freitag hinein saßen die EU-Staats- und Regierungschefs bei einem Gipfel in Brüssel zusammen. „Ja, tschüss“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am Ende des Treffens, das sein letzter EU-Gipfel gewesen sein dürfte. Er grinste dabei und kniff die Augen kurz zusammen. Gegen 23 Uhr verließ Scholz wortkarg den Brüsseler Pleitegipfel.
Das Spitzentreffen in Brüssel ging erneut ohne konkrete Ergebnisse zu Ende. Dabei hatten der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas im Laufe der Beratungen mehrmals gefordert, ein größeres Militärpaket zu beschließen. „Wir brauchen Mittel für Artilleriegranaten und würden uns sehr über die Unterstützung Europas mit mindestens fünf Milliarden Euro so schnell wie möglich freuen“, flehte Selenskyj in einer kurzen Videoschalte.
Er verwies darauf, dass sein Land jede Nacht massiv mit Drohnen und Raketen angegriffen werde und viele Zivilisten stürben. „Je stärker sie (die Ukrainer; Anm. d. Red.) auf dem Schlachtfeld sind, desto stärker sind sie hinter dem Verhandlungstisch“, sekundierte Kallas dem ukrainischen Präsidenten. Für die frühere Ministerpräsidentin von Estland war dieser Gipfel eine Enttäuschung. Sie konnte sich in einer zentralen Frage nicht durchsetzen: Statt den von ihr geforderten kurzfristigen Ukraine-Militärhilfen von bis zu 40 Milliarden Euro stellten die Chefs für dieses Jahr nur fünf Milliarden Euro zum Kauf von Munition in Aussicht.
Jeder hatte Ausreden: Italien forderte mehr Details, Frankreich will lieber Gelder für eine Initiative der G-7-Länder geben, die 18 Milliarden Euro an Krediten für Kiew vorsieht. „Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Unterstützung für die Ukraine nicht abnimmt, sondern weitergeht und wächst“, monierte Selenskyj. Finnlands Ministerpräsident Petteri Orpo kritisierte, dass viele Länder bei Waffenlieferungen an die Ukraine nicht „adäquat performen“ würden.
Es ging zur Sache bei diesem Gipfeltreffen. Nach Angaben aus informierten Kreisen schwankte die Stimmung enorm. Einigkeit herrschte eigentlich nur darin, alles daranzusetzen, um Europas Verteidigungsfähigkeit bis zum Jahr 2030 massiv auszubauen. Dazu hatte die EU-Kommission einen Vorschlag erarbeitet, der in den kommenden vier Jahren insgesamt bis zu 800 Milliarden Euro an zusätzlichen Verteidigungsausgaben mobilisieren soll. Ob daraus jemals etwas wird, ist unklar. Kritiker sagen, das Ziel von 800 Milliarden Euro scheine aus der Luft gegriffen zu sein, womöglich sei es eher ein PR-Gag als eine seriöse Lösung. Aber weil sie nicht sofort liefern müssen, fiel es allen Anwesenden vorerst leicht, die schwindelerregende Zahl abzunicken.
Klar wurde aber auch, dass die südlichen EU-Länder zunehmend genervt sind über die Bedrohungsszenarien und Aufrüstungs-Appelle aus Brüssel. Von der Forderung des mächtigen Partei- und Fraktionschefs der europäischen Christdemokraten (EVP), Manfred Weber (CSU), „unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umzustellen“, halten sie ebenfalls nichts. „Ich mag den Begriff Aufrüstung nicht. Die Europäische Union ist ein politisches Projekt der weichen Macht“, sagte Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez. „Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Herausforderungen, mit denen wir in der südlichen Nachbarschaft konfrontiert sind, sich ein wenig von denen unterscheiden, mit denen die Ostflanke konfrontiert ist“, ätzte Sanchez. Für ihn stehe mehr im Vordergrund, die Grenzkontrollen und den Kampf gegen den Terrorismus zu verstärken. Auch Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni machte klar, dass sie von dem Begriff Aufrüstung nichts mehr hören wolle.
Wie schwierig das Projekt einer europäischen Turbo-Aufrüstung werden wird, zeigten auch die Einlassungen mehrerer EU-Regierungschefs, insbesondere jenen aus hoch verschuldeten Mitgliedstaaten. Länder wie Italien und Griechenland haben enorme Budgetprobleme und fordern darum eine gemeinschaftliche Finanzierung der Rüstungsausgaben.
Konkret geht es dabei um eine gemeinschaftliche Verschuldung, also Eurobonds, für die Verteidigung. Die deutschen Steuerzahler könnte das etliche Milliarden Euro zusätzlich an Zinslasten kosten. Aus Sicht der Schulden-Staaten ist das natürlich kein Argument. Darum forderte der einflussreiche konservative griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis bei dem Treffen in Brüssel auch vehement Eurobonds – und er hat mittlerweile immer mehr Verbündete. Nur eine Minderheit, wie etwa Deutschland, die Niederlande und Österreich, ist noch dagegen. Der Druck auf Berlin steigt also. Die Apologeten von EU-Gemeinschaftsschulden setzen jetzt auf Friedrich Merz, der vermutlich im Frühjahr zum neuen deutschen Kanzler gewählt werden dürfte. Die große Frage wird dann sein: Knickt Merz da ein, wo sein Vorgänger Scholz standhaft geblieben ist?
„Wozu bin ich denn hier?“, faucht Kallas
Das ist aber längst nicht das einzige Problem, vor dem die EU in den kommenden Wochen steht. So gibt es unterschiedliche Ansichten über die Notwendigkeit eines eigenen EU-Ukraine-Beauftragten, der die Europäer – falls es jemals dazu kommen sollte – während der Verhandlungen mit Amerika, Russland und der Ukraine vertreten könnte. „Wir brauchen ein Verhandlungsteam und einen Repräsentanten, der für die europäischen Bürger spricht“, sagte Sanchez bei den internen Beratungen. „Wozu bin ich denn hier“, fauchte ihn EU-Chefdiplomatin Kallas nach Angaben aus Diplomatenkreisen an. Es war einer der weniger Augenblicke, in dem die Spannungen offen ausbrachen.
Auch der Ärger über den ungarischen Ministerpräsidenten und Putin-Freund Viktor Orbán ist groß. Er will Erklärungen und zahlreiche Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine nicht mehr länger mittragen. Darum ist die EU beim Thema Ukraine nun gezwungen, eine Koalition der Willigen aus 26 Staaten, anstatt einer Union der 27 zu bilden. „Wir können ihn nicht vor die Tür werfen“, sagte ein Diplomat entnervt. „Die EU ist ein zahnloser Tiger“, konterte Orbán. Dem Ungarn macht die Rolle des Spielverderbers mit besten Kontakten zu Trump und Putin offenbar zunehmend Spaß.
Meistens aber blieben die Spannungen zwischen den Chefs subkutan. Noch ist in den meisten Fällen das diplomatische Florett angesagt. Aber wie lange noch? So verkündete Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron stolz, dass zahlreiche EU-Spitzenpolitiker schon Mitte kommender Woche in Paris erneut zusammenkämen, um über den Aufbau von Friedenstruppen zur Sicherung eines Waffenstillstandes in der Ukraine zu beraten. Auch der britische Premierminister Keir Starmer sagte: „Wir hoffen, es wird einen Deal geben. Aber was ich weiß, ist, falls es einen Deal geben sollte, muss man jetzt planen.“
Scholz sieht das – ebenso wie Merz – ganz anders. Für den deutschen Kanzler ist die schnelle Aufrüstung der Ukraine die beste Sicherheitsgarantie. Für Planspiele über Friedenstruppen nach Verhandlungen sei es noch viel zu früh. „Wir sind gar nicht in der Situation, wo man sich über die Zusammensetzung eines großen runden Tisches mit verschiedenen Beteiligten – auch über den Kreis der bisher benannten hinaus – Gedanken machen müsste und sollten auch nicht so tun, als wäre es so“, sagte der Kanzler. Der leichte verquaste Satz war eine gezielte Spitze mit dem Florett gegen Macron. Es war einer der letzten Sätze von Scholz auf der europäischen Bühne.
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