Nach den Ereignissen der vergangenen Wochen zeichnet sich eine historische Veränderung der globalen Ordnung ab. Was bedeutet das für Europa? Wir können aus der eigenen Erfahrung mit einer multipolaren Ordnung viel lernen.

Der Schock der letzten Wochen wird von vielen als ein Abschied von einem gemeinsamen Westen verstanden, von einer langen, engen transatlantischen Beziehung, von einem Europa in einem internationalen System, in dem es sich sicher fühlte. Wohin der Weg gehen wird, ist noch nicht entschieden. Es könnte ein bipolares System entstehen, mit China und den USA als den beiden Supermächten, mit Europa und Russland als Seitenstützen und einer erneuten Teilung Europas. Es könnte aber auch ein multipolares System entstehen, in dem Europa eine der vier oder fünf größeren Mächte der Welt wird, neben den USA, China, Russland und Indien.

Derzeit sieht es mehr nach multipolaren internationalen Beziehungen aus. Europa hat in seiner Geschichte beides erlebt: ein bipolares System im Kalten Krieg und ein multipolares System im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Zu beiden Optionen kann es Schlüsse aus der eigenen Vergangenheit ziehen.

Der Kalte Krieg: Ideologische Kämpfe, aber auch Wohlstand

Auf der einen Seite steht die Erfahrung mit der bipolaren Welt des Kalten Krieges: Sie enthielt viele negative Erfahrungen: die Teilung Deutschlands und die Mauer in Berlin, die Aufteilung der ganzen Welt in Einflusszonen der USA und der UdSSR, mit heißen Kriegen in China, in Korea, in Vietnam und kleineren Konflikten in Afrika und Südostasien, die heute meist vergessen sind; die ideologischen Kämpfe, die oft in Intoleranz gegenüber vermeintlichen fünften Kolonnen ausarteten, im sowjetischen Einflussbereich sicher schärfer als im Westen.

Aber gleichzeitig verbindet sich für Europa mit dem Kalten Krieg auch eine stabile Periode ohne heiße Kriege in Europa, ohne Annexionen, mit viel Wirtschaftswachstum und einzigartiger Verbesserung des Lebensstandards, mit der Durchsetzung von Demokratien und dem Aufbau der Europäischen Gemeinschaft, aus der die Europäische Union erwuchs. Diese bipolare Welt war für Europa nicht nur Unterwerfung, sondern auch Fortschritt und in Grenzen auch Eigenständigkeit.

Das 19. Jahrhundert: Stabilität und zunehmend aggressiver Nationalismus

Auf der anderen Seite steht die Erfahrung mit der multipolaren Welt zwischen 1815 und 1914 in Europa, dem System der fünf Mächte: Großbritannien, Frankreich, die Habsburger Monarchie, das Zarenreich und Preußen beziehungsweise ab 1871 Deutschland. Auch diese Welt war stabil, ein Jahrhundert fast ohne Krieg in Europa mit Ausnahme des Krimkrieges 1853 bis 1856 und der drei Kriege Preußens zwischen 1864 und 1871. Auch diese Epoche brachte eine enorme wirtschaftliche Dynamik, setzte die Industrialisierung in großen Teilen Europas durch, verbesserte für viele Europäer den Lebensstandard und die Bildung, erbrachte einen glanzvollen Aufstieg des Bürgertums, führte in einer ganzen Reihe von Ländern zu einflussreichen Parlamenten - meist ohne allgemeines Wahlrecht, aber doch Kontrollinstanzen gegenüber den Monarchen und ihren Bürokratien.

Es war auch die Epoche der europäischen Weltherrschaft, da zwei dieser Mächte riesige Kolonialimperien besaßen. Man vergisst leicht, dass dieses Fünf-Mächte-System nicht nur aus Rivalitäten bestand, sondern auch aus internationalen Vereinbarungen: Mit dem Goldstandard wurde ein stabiles Währungssystem aufgebaut. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein liberales europäisches Wirtschaftssystem mit weitgehendem Abbau der Zölle und der Liberalisierung des Reisens erreicht.

Dieses Fünf-Mächte-System hatte auch schwerwiegende Nachteile: vor allem im späten 19. Jahrhundert der immer aggressivere Nationalismus, das Abschirmen der Wirtschaften durch Zollschranken, die Einschränkungen des freien Reisens, das Wettrüsten, die Konkurrenz zwischen den europäischen Imperien, die Unterdrückung der Kolonialvölker, die rassenideologisch begründeten Überlegenheitsgefühle der Europäer, auch, was man oft übersieht, die Ängste der Europäer vor Dekadenz und Untergang des Abendlandes. Der verhängnisvollste Nachteil war schließlich die Unfähigkeit dieses Mächtesystems, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu verhindern, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und der Auslöser des noch schlimmeren Zweiten Weltkriegs.

Fehler, die Europa nicht wiederholen sollte

Europa hat sich in den vergangenen Wochen aus guten Gründen auf den Weg zu einem multipolaren System gemacht. Es möchte eine der größeren Mächte der Welt werden, seine militärische Verteidigungsfähigkeit aufbauen, den wirtschaftlichen Rückfall hinter die USA und China umdrehen und seine europäischen Freiheitswerte verteidigen. Es möchte eine unabhängige, souveräne, defensive, demokratische Macht werden.

Kann Europa für diesen Weg aus seiner Geschichte etwas lernen? Die multipolare Welt des 19. Jahrhunderts wird niemand wiederherstellen wollen und können. Aber man kann versuchen, für die Zukunft des ganz anderen multipolaren Mächtesystems des 21. Jahrhunderts aus dem 19. Jahrhundert zu lernen.

Drei Fehler des 19. Jahrhunderts sollte man nicht wiederholen. Europa sollte defensiv bleiben und nicht wieder Ansprüche auf Regionen außerhalb Europas erheben, denn miteinander unvereinbare imperiale Ansprüche waren einer der Gründe für die Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Zudem sollten gemeinsame Regeln für alle Mächte ausverhandelt werden, denn das war einer der Gründe, warum dieses System im 19. Jahrhundert so lange hielt. Sie zerfielen dann aber in den verhängnisvollen letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Gemeinsame Regeln klingen derzeit wie aus der Welt gefallen, aber ohne sie geht es nicht.

Einen dritten Fehler, den die Deutschen am Ende des 19. Jahrhunderts machten, sollte ebenfalls nicht wiederholt werden. Das Deutsche Reich wurde 1871 in das bestehende Fünf-Mächte-System hineingegründet. Deutschland war bald vor allem darauf bedacht, wie es sich in diesem System mit einer dynamischen Wirtschaft, einer erfolgreichen Wissenschaft und einer starken Armee platzieren konnte. Es hat zu wenig darauf geachtet, wie das Fünf-Mächte-System stabil gehalten werden konnte. Genauso geht es für Europa heute nicht allein darum, wie es sich selbst in einem neuen Fünf-Mächte-System des 21. Jahrhunderts positionieren kann, sondern auch um die Stabilität der Welt des 21. Jahrhunderts. Es kommt einfach vor, dass man sich den zweiten Schritt schon überlegen sollte, wenn man den ersten Schritt tut.

Der Autor: Prof. Dr. Hartmut Kaelble zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern. Bis 2008 lehrte er Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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