In der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestags spricht Alterspräsident Gregor Gysi über eine lange Liste von Themen. Fast alles hat man so schon von ihm gehört.
Die möglicherweise härteste Kritik kommt von der CDU-Politikerin Serap Güler. "Gysi hat immer wieder erwähnt, dass er sich auf diesen Moment im Deutschen Bundestag freut", twittert sie, als der Linken-Politiker Gregor Gysi noch mitten in seiner Rede als Alterspräsident steckt. "Jetzt hat er ihn und nutzt ihn doch nicht."
Gülers Kurzkommentar legt den Finger mitten in die Wunde. Vor der konstituierenden Sitzung des Bundestags hatte Gysi damit kokettiert, dass er als Alterspräsident unbegrenzte Redezeit habe - der Linken-Politiker ist als Thomas Gottschalk des Bundestags bekannt: Er überzieht gern mal. Am Ende werden es zwar nur gut 35 Minuten. Die allerdings ziehen sich.
Denn der 77-Jährige spricht über alles Mögliche. Natürlich über die Wiedervereinigung, über Krieg und Frieden, Wahrheit und Politik, Klimaschutz und Klimaprotest, Corona, Bildungsgerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, über den Abbau von Bürokratie und noch einiges mehr.
Am Ende klatscht fast nur die Linke
Irgendwann wird der anfangs noch freundliche Applaus weniger. Als Gysi ankündigt, nun auch noch ein paar Worte zur Lage der Welt zu sagen, gibt es Zwischenrufe. "Ja, da müssen Sie einfach durch", entgegnet Gysi ungerührt. Ganz zum Schluss gibt seine Fraktion ihm stehende Ovationen. Selbst bei SPD und Grünen wird da nur noch vereinzelt geklatscht. Parteiübergreifend dürfte die Erleichterung dominieren, dass es vorbei ist.
Vieles, fast alles eigentlich, hatte man so schon von Gysi gehört. Den 8. Mai als Tag der Befreiung von Nationalsozialismus zu einem gesetzlichen Feiertag zu machen, fordert seine Partei beispielsweise schon seit Jahren.
Aber es war nicht alles schlecht. So kritisiert Gysi zu Beginn seiner Rede die Aufrüstung gegen Russland, sagt jedoch auch, die Mehrheit des Bundestags wolle durch ein hohes Abschreckungspotenzial dafür sorgen, "dass kein Land es wagt, uns anzugreifen". "Diejenigen, die das anders sehen, zum Beispiel ich, dürfen diejenigen, die diesen Standpunkt vertreten, niemals als Kriegstreiber bezeichnen, denn sie wollen ja auf ihrem Weg Frieden sichern." Umgekehrt fordert er ebenso, auch jene nicht "als Putin-Knechte" zu bezeichnen, die auf Deeskalation und Interessenausgleich setzten.
Nachdrücklich und mit Verweis auf seine eigene Familiengeschichte spricht Gysi sich zudem gegen Antisemitismus und für das Existenzrecht Israels aus. "Israel muss souverän, unabhängig und sicher sein und werden. Wir haben aufgrund unserer Geschichte dafür eine besondere Verantwortung." Aber auch die Palästinenser hätten "ein Recht auf ein Zuhause". Für sie gebe es "zurzeit keine Aussicht auf eine zivile Zukunft, für die es sich lohnte, sich einzusetzen". Nur mit einer solchen Aussicht "wäre man in der Lage, Terrororganisationen wie die Hamas und die Hisbollah zu überwinden".
Sandmännchen, Ampelmännchen und Abbiegepfeil
Die frühe Verteilung von Schulkindern auf unterschiedliche Schultypen nennt Gysi soziale Ausgrenzung. Den Hinweis, dass man von der Schulstruktur der DDR hätte lernen können, erspart Gysi seinem Publikum. Allerdings kritisiert er, dass die ostdeutsche Diktatur auf "auf Staatssicherheit und Mauertote reduziert" worden sei. Bei der Einheit seien nur das Sandmännchen, das Ampelmännchen und der grüne Abbiegepfeil übernommen worden; die Einheit sei von vielen Ostdeutschen daher als Demütigung empfunden worden. Der "neu zu wählenden Kanzlerin oder dem neu zu wählenden Kanzler" empfiehlt Gysi, sich für entsprechende Versäumnisse zu entschuldigen.
Dabei hätte Gysi einige zu erzählen gehabt, schließlich ist er nicht nur der am längsten dienende Bundestagsabgeordnete, sondern hatte schon der Volkskammer der DDR angehört. Mehrfach hat er seine Partei gerettet: zuletzt im jüngsten Wahlkampf, wenn auch mit tatkräftiger Hilfe von Friedrich Merz, zum ersten Mal 1989/1990, als er Vorsitzender der SED wurde - jener Partei also, bei der in der DDR-Diktatur die komplette Macht lag. Daran erinnert der CDU-Abgeordnete Sepp Müller aus Sachsen-Anhalt. Er hält während Gysis Rede ein Buch des Historikers Hubertus Knabe so, als würde er darin lesen: "Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur".
Allerdings ist es unfair, Gysi auf die SED zu reduzieren - so wie es unfair ist, die DDR auf ihren Unterdrückungsapparat zu reduzieren. Immerhin war er es, der 1990 dafür sorgte, dass der Beitrittsbeschluss juristisch korrekt formuliert wurde: In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 beschloss die demokratisch gewählte, die letzte Volkskammer den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Gysi und die SED waren dagegen. Aber die Mehrheit war dafür. Nach der Abstimmung stellte der Vizepräsident der Volkskammer, der Sozialdemokrat Reinhard Höppner, fest: "Die Volkskammer erklärt den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990." Das klang wie der Beitritt der Volkskammer zur Bundesrepublik - was fehlte, war der Zusatz "den Beitritt der DDR". Gysi machte Höppner noch während der Sitzung auf den Formfehler aufmerksam. Ins Protokoll wurde die DDR daraufhin handschriftlich hinzugefügt.
Gysi ist übrigens nur deshalb Alterspräsident des Bundestags, weil die Geschäftsordnung des Parlaments 2017 geändert wurde: Seither eröffnet der dienstälteste, nicht der älteste Abgeordnete die konstituierende Sitzung. Damals sollte verhindert werden, dass ein AfD-Abgeordneter die Sitzung eröffnet.
Die AfD wollte lieber Gauland hören
Mit der alten Regelung wäre in diesem Jahr nicht Gysi, sondern der 84 Jahre alte AfD-Abgeordnete Alexander Gauland Alterspräsident geworden. Die AfD-Fraktion forderte daher zu Beginn der Sitzung, die alte Regelung wiederherzustellen. Das lehnte der Bundestag ab.
In der kurzen Geschäftsordnungsdebatte zu diesem Antrag echauffierte sich AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann, die anderen Fraktionen agierten "wie ein Parteienkartell". In einem Rundumschlag warf er der CDU "gigantischen Wahlbetrug" vor, behauptete, der "rechtmäßige und wahre Alterspräsident" sei Gauland, die Linke dagegen "Rechtsnachfolger der Mauerschützenpartei SED", um dann zu erklären, die Hand der AfD sei "immer ausgestreckt".
Unionsfraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei entgegnete, die Regelung von 2017 sei kein Novum mehr, sondern geübte Praxis. "Ich glaube, es ist richtig, dass wir einen Alterspräsidenten haben, der Erfahrung und Souveränität aufgrund der Dauer der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag mitbringt." Man habe bei der Eröffnungssitzung des Thüringer Landesparlaments sehen können, dass ein AfD-Alterspräsident "zur Chaotisierung der Eröffnungssitzung beiträgt". Das Thüringer Landesverfassungsgericht habe dem Alterspräsidenten "in den Arm fallen" müssen, "um die Ordnungsmäßigkeit der Parlamentseröffnung sicherzustellen". Das sei würdelos gewesen, "und das wollen wir im Deutschen Bundestag nicht erleben".
Allerdings ahnte Frei zu diesem Zeitpunkt wohl schon, dass Gysis Rede nicht unbedingt nach seinem Geschmack sein dürfte. "Führt jetzt das Maß des Dienstalters automatisch zum besten Alterspräsidenten?", fragte er, um selbst die Antwort zu geben: "Nein, das glaube ich nicht, und das ist auch heute nicht der Fall aus der Sicht unserer Fraktion. Aber es ist ein vernünftiger Ansatzpunkt, und deshalb ist es richtig."
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