Der französische Rabbiner Arié Engelberg war am vergangenen Samstag im friedlichen Städtchen Orléans unterwegs, als er angegriffen, zu Boden geworfen, getreten und gebissen wurde. Der mutmaßliche Täter, ein 16-jähriger Jugendlicher, der seine Attacke filmte, ist marokkanischer Staatsbürger, behauptete bei seiner Verhaftung jedoch, Palästinenser zu sein.

Keine halbe Stunde später setzte sich in Paris ein Zug mit rund 20.000 Menschen in Bewegung, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Die Attacke auf den Rabbiner spielte unter den Demonstranten allerdings keine Rolle. Zu sehen waren zahlreiche Palästinenserflaggen und Spruchbänder mit den Worten „Stoppt die Islamophobie“ – während die Anteilnahme für jüdische Mitbürger, denen seit den Attacken der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel eine Welle des Hasses in ihrem eigenen Land entgegenschlägt, mager bleibt. Und so nahmen viele Juden in Frankreich auch nicht an der Demonstration teil. „Meine Kinder wären nicht in Sicherheit gewesen“, sagte etwa die Rabbinerin Delphine Horvilleur.

Das ungebrochene Engagement der Franzosen gegen Diskriminierung und Rassenhass scheint immer häufiger die jüdischen Bürger auszuschließen. Anders formuliert: Man kann sich heutzutage als Antirassist bezeichnen – und gleichzeitig wie ein Antisemit verhalten.

Ein Widerspruch, der bei der radikalen Linken am ausgeprägtesten ist. „Jede Partei muss sich der Explosion des Antisemitismus stellen“, fordert der Europaabgeordnete Raphaël Glucksmann. „Es gibt ein Problem bei der Linken und in der Wahrnehmung der Linken durch die Öffentlichkeit“, fügt er hinzu.

Mitunter schwelt der Antisemitismus nicht nur leise von sich hin, sondern bricht sich unverhohlen Bahn. Das war der Fall, als ein kreativer Geist der radikalen Linkspartei La France Insoumise (LFI) für die besagte Anti-Rassismus-Demo in Paris ein antisemitisches Plakat entwarf.

Zu sehen war eine Karikatur von Cyril Hanouna, ein erfolgreicher Fernsehmoderator, der sein Talent in den Dienst der identitären Ideologie gestellt hat. Aber das Plakat zielte nicht auf seine politischen Überzeugungen ab oder auf die zweifelhafte Qualität seiner allabendlichen Sendung mit dem Titel „Touche pas à mon poste!“ (Hände weg von meiner Glotze). Vielmehr ging es um Hanounas Physiognomie und seine Konfession.

Die Darstellung des 50-jährigen Fernsehmanns wirkt wie eine Kopie der Filmplakats „Jud Süß“ aus dem Jahr 1940 und bedient auf so eindeutige Weise die antisemitischen Codes der Nazis, dass LFI das Plakat zurückziehen musste. Als eine heftige Debatte um das Banner entbrannte, tat der Chefideologe von LFI, Jean-Luc Mélenchon, diese genervt als Verleumdungskampagne der Rechten ab. „Wir sind keine Antisemiten, lasst uns in Ruhe“, wütete Mélenchon.

Ein Abgeordneter der Partei entschuldigte den Vorfall damit, dass das Plakat mithilfe künstlicher Intelligenz entstanden sei. Das aber macht die Sache noch gravierender. Denn offensichtlich handelt es sich nicht um den Lapsus eines Parteifunktionärs, sondern um jemanden, der das Bildprogramm womöglich gezielt gefüttert hat: „Hier ist ein Foto von Hanouna. Bitte mache daraus eine böse Judenfratze.“ So etwa muss der Prompt formuliert gewesen sein.

„Schweigen, Verleugnung und Gleichgültigkeit“

Noch vor diesem Vorfall hatte eine Gruppe französischer Intellektueller, darunter die Regisseurin Ariane Mnouchkine, die Soziologin Eva Illouz und die Historikerin Annette Wieviorka, in einem Meinungsbeitrag in „Le Monde“ Anfang März die antisemitische Wende der Linkspartei LFI beklagt und ihrer „Bestürzung und Empörung“ Ausdruck verliehen. „Angesichts der Hakenkreuze, der antisemitischen Graffiti auf unseren Schaufenstern und Briefkästen, begegnen uns vonseiten der extremen Linken nur Schweigen, Verleugnung und Gleichgültigkeit“, kritisieren sie.

Dass der Antisemitismus keine Erfindung der Rechten ist, hat schon der Schriftsteller Jean Améry in den 70er-Jahren analysiert. Seine Essaysammlung „Der neue Antisemitismus“, im vergangenen Jahr bei Klett-Cotta neu aufgelegt, beschreibt das Phänomen des „ehrbaren Antisemitismus“.

„Die Millionen jüdischer Brandopfer (…) sind abbezahlt“, schreibt Améry, „die Welt wird, gleich Pontius Pilatus, ihre Hände in Unschuld waschen. Der Antisemitismus im Kleide des Antizionismus wurde ehrbar.“ Man könnte auch kritisieren, dass er noch nie so „ehrbar“ wie jetzt war, seit die Opfer, die aus den israelischen Kibbuzim entführt oder dort ermordet wurden, mit den Opfern im Gaza-Streifen aufgerechnet werden.

„Sobald die Juden als gefährliche Entität betrachtet werden, die Gesetze ignoriert, die für Blutvergießen und für Verwüstungen sorgt, wird der Antisemitismus zur Partei der Menschlichkeit, der Moral, der Ordnung und des Gesetzes“, schreibt die Soziologin Illouz, die die Gedanken von Améry weiterführt. „Es ist daher nicht überraschend, dass sich die Jugendlichen, die weltweit demonstrieren und die Zerschlagung des Staates Israel fordern, nicht als Antisemiten betrachten“, so Illouz.

Illouz spielt darauf an, dass es bei Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg oder Solidaritätsbekundungen für dessen Opfer immer wieder zu antisemitischen Ausbrüchen kommt. Ob in den USA oder Europa – die Fronten haben sich verschoben. Auch in Frankreich ist der irrationale Hass gegen Juden von Rechtsaußen auf den extremen linken Rand des Parteienspektrums übergewechselt.

Neu ist das Phänomen nicht, aber es war selten so stark wie heute. So ist die Abgeordnete des Europaparlaments Rima Hassan trotz ihrer antisemitischen Äußerungen zur Ikone von LFI aufgestiegen. Obwohl – oder weil – sie den Terror der Hamas als legitim bezeichnet hat und schon mehrfach wegen Verteidigung des Terrorismus angezeigt wurde.

Neue Strategie beim RN

Zugleich lässt sich bei den Rechtsnationalen ein Strategiewechsel beobachten. Jahrelang konnte man den Antisemitismus bequem beim rechtsextremen „Front National“ verorten, der vom im Januar verstorbenen Jean-Parteigründer Marie Le Pen zusammen mit einem ehemaligen Mitglied der Waffen-SS gegründet wurde. Er schien eine nur kleine Gruppe von Radikalen zu betreffen.

Seit seine Tochter Marine die Parteiführung übernommen, den Namen geändert und sich vom Antisemitismus ihres Vaters distanziert hat, gehören die alten Gewissheiten zumindest in Teilen der Vergangenheit an. Seither ist das Zurschaustellen von Solidarität mit Israel und Frankreichs Juden Teil der Strategie der „Ent-Diabolisierung“, also des Versuchs der Normalisierung, des „Rassemblement National“ (RN).

Viele französische Juden empfinden das als unecht, aber die Strategie funktioniert, wie die jüngste Erklärung des ehemaligen jüdischen Nazijägers Serge Klarsfeld bewiesen hat. Klarsfeld hatte im vergangenen Jahr vor den vorgezogenen Parlamentswahlen gesagt, er würde im Fall eines Duells lieber für die Rechtsnationalisten vom RN statt für die Linkspopulisten stimmen.

Zum ersten Mal wird diese Woche außerdem ein Chef der Rechtsnationalen nach Israel reisen. Parteichef Jordan Bardella nimmt an der „Internationalen Konferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus“ teil, zu der Israels Diaspora-Minister Amichai Chikli am Mittwoch und Donnerstag einlädt. „Dass der Chef unserer Partei vor israelischen Offiziellen redet, ist die Konkretisierung all dessen, was in den letzten zwanzig Jahren in der Partei getan wurde“, so Louis Aliot, Bürgermeister von Perpignan und Parteivize des RN. „Es ist das Ende und der Höhepunkt der Ent-Diabolisierung“, urteilt Aliot.

Allerdings hat die Krönung des RN zur „normalen“ Partei einen Schönheitsfehler. Seit die Gästeliste der Konferenz bekannt ist, regnet es Absagen. Weder der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy noch der deutsche Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, Felix Klein, wollen sich auf einer Veranstaltung zeigen, deren Gästeliste sich liest wie die eines Parteitags der identitären, und rechtsnationalen bis rechtsextremen Kräfte Europas.

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.

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