Wann sich Uwe Hambrock zum letzten Mal selbst bei einem Vorurteil ertappt hat, kann er gar nicht sagen. Solche Gedanken und Gefühle, sagt der Psychologe, entstünden überwiegend automatisch und unbewusst. In bestimmten Kategorien zu denken und andere Menschen zunächst in „Schubladen“ zu stecken, bevor man sie genauer kennenlernt, ist also normal.

Doch vorschnelle Urteile können auch gefährlich sein, nicht nur für die Betroffenen und jene, die sie haben, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt und das Gesundheitssystem. Das belegen zwei Studien, die Hambrock für das auf tiefenpsychologische Studien spezialisierte Rheingold Institut erstellt hat. Zweimal binnen vier Jahren nahmen er und sein Team für die Krankenkasse IKK classic das Thema „Vorurteile und Diskriminierung“ ins Visier.

Um die Vorurteilsneigung in Deutschland möglichst zielgenau herauszuarbeiten, lag der Fokus auf zwei Gruppen, auf Menschen mit Migrationshintergrund und auf sogenannten LGBTIQ-Personen; die Abkürzung steht für „lesbisch, gay, bisexuell, trans- und intergeschlechtlich und queer“. Auch beim Auftraggeber, der bundesweit tätigen Innungskrankenkasse IKK Classic aus Dresden, sorgten die Ergebnisse für Alarm. Denn nach den ohnehin schon besorgniserregenden Erkenntnissen aus dem Jahr 2021 hat sich die Lage noch weiter verschärft.

Die Auftakt-Untersuchung hatte belegt, wie sehr Diskriminierungserfahrungen die Gesundheit gefährden. Menschen, die sich herabgewürdigt, benachteiligt oder ausgegrenzt fühlten, leiden deutlich öfter an Burn-out, Depressionen oder Angstattacken, schlechtem Schlaf, Essstörungen, Magen-Darm-Krankheiten und Migräne. Aber auch jene, die verbittert auf andere Gruppen blicken, können sich schaden. „Populistische Meinungen, Schwarz-Weiß-Denken und Isolation belasten nicht nur“, warnte die Krankenkasse. Dauerhaftes negatives Denken, ablehnende Reaktionsmuster und Zynismus könnten zudem auch die mentale und körperliche Gesundheit belasten.

Die Studie war wegweisend, denn bis dahin lagen in Deutschland kaum belastbare Daten auf diesem Feld vor. Jetzt sei klar, dass Ressentiments und Abwertungen nicht nur für die Betroffenen ein Problem seien, sondern auch für das Gesundheitssystem und damit die Gesellschaft insgesamt, warnte die IKK Classic seinerzeit. Vorstandschef Frank Hippler ließ Präventions- und Interventionsmöglichkeiten erarbeiten und gab eine Kampagne in Auftrag, um die gesundheitliche Dimension von Diskriminierung herauszustreichen. „Wir möchten für ein gesundes Zusammenleben sensibilisieren“, sagte er.

Doch wie nun die Folgestudie zeigte, verbreiten sich diskriminierende Haltungen und Handlungen nicht nur verstärkt weiter in der Gesellschaft. „Vorurteile werden auch zunehmend als normal empfunden und verharmlost“, so Rheingold-Psychologe Hambrock. Tiefeninterviews und eine repräsentative Befragung von rund 1900 Menschen hätten ergeben: Während die Ablehnung bestimmten Gruppen gegenüber wachse, nehme das Bewusstsein dafür spürbar ab, dass Deutschland an dieser Stelle ein Problem habe.

So gaben vor vier Jahren 35 Prozent der Befragten an, Angst vor gewissen Menschengruppen zu haben, mittlerweile sind es bereits 42 Prozent. Jeder Zweite bejaht mittlerweile die Aussage: „Bestimmte Gruppen von Menschen mag ich einfach nicht“, zusätzliche 26 Prozent zeigten sich unentschieden.

Außerdem ist mehr als ein Drittel der Befragten (35 Prozent) davon überzeugt, in Wahrheit gar keine Vorurteile zu haben, sondern nur „berechtigte Urteile über bestimmte Menschengruppen“. So selbstgewiss waren vier Jahre zuvor nur 27 Prozent aufgetreten. „Statt Situationen und Menschen objektiv zu betrachten, beharren immer mehr Personen mit Vorurteilen auf ihrer Meinung und ignorieren die Folgen“, so Hambrock.

Betroffene zeigen selbst mehr Vorurteile als Nicht-Betroffene

Eine wesentliche Ursache sieht der Studienleiter in den mannigfaltigen Krisen, dem Gefühl der Verunsicherung und der eigenen Benachteiligung. „Wenn die Wirtschaft schwankt und die eigene Zufriedenheit leidet, muss ein Schuldiger her.“ Um sich aus dem Gefühl der Ohnmacht und Überwältigung herauszuholen, werde ein Sündenbock gesucht. „Wenn man einen Verantwortlichen für die Misere ausgemacht zu haben glaubt, fühlt man sich etwas mächtiger.“

Ein weiterer Grund sei eine immer ausgeprägtere Anspruchshaltung, genährt nicht zuletzt durch die Politik. „Über Jahre fand quer durch alle Parteien ein Überbietungswettbewerb statt“, so Hambrock und nennt als Symbol die „Merkel-Raute“: „In diesem Schoß sind alle gut aufgehoben, das war lange Zeit die Botschaft an die Bürger.“ Aber selbst heute noch würden schmerzende Botschaften, dass Verzicht nötig sei, gemieden.

In den Tiefeninterviews habe sich gezeigt, wie stark bestimmte Narrative immer stärker Einzug hielten ins Denken und Sprechen breiter Schichten. „Das Bild von Menschen mit Migrationshintergrund verfestigt sich immer mehr, die mit dem dicken Auto vor der Arbeitsagentur vorfahren, sich dort Geld abholen und damit in Saus und Braus leben“, so Hambrock. Solche Bilder würden von der AfD gezielt genutzt. Aber auch die von CDU-Chef Friedrich Merz kreierte Wendung von den „kleinen Paschas“ sei häufiger gefallen.

Besonders interessant: Bei den Menschen mit starker Vorurteilsausprägung zeigten sich keine Einkommensunterschiede. „Das geht durch alle Einkommensklassen und Berufe“, so Hambrock. Trotzdem sei bei den meisten Menschen mit starken Vorurteilen die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands besonders groß, ebenso die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation und dem Einkommen.

Auch gilt aber: Wer Diskriminierung erlebt, neigt zum Teil selbst zu diskriminierendem Verhalten. „Betroffene Personen zeigen genauso viel, teilweise sogar mehr Vorurteile als Nicht-Betroffene“, so Hambrock. Betroffene reagierten unter anderem mit „Gegen-Vorurteilen“, also Vorurteilen über die „Täter“-Gruppe. „Außerdem neigen Menschen mit Migrationshintergrund, die sich stärker diskriminiert fühlen, selbst stärker zu Vorurteilen gegenüber Frauen und LGBTIQ.“

Was also tun? Der respektvolle Austausch sowie ein wertschätzender Umgang mit anderen seien wichtige Faktoren, so die Studie. Sie empfiehlt, Kontakte mit anderen sozialen Gruppen aufzubauen, um diskriminierendes Verhalten zu reduzieren. Mindestens fünf dauerhafte Kontakte, zum Beispiel im Sport, Beruf oder Freundeskreis, seien laut Faustregel nötig, um ein Vorurteil abzubauen.

Politikredakteurin Hannelore Crolly schreibt bei WELT über bundes- und landespolitische Themen, vor allem in Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz. Zuvor war sie Wirtschaftskorrespondentin in Frankfurt, San Francisco und Brüssel.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke