Erstmals steht ein konkreter Zeitpunkt für einen möglichen Angriff Chinas auf Taiwan im Raum: 2027. In diesem Jahr ist eine Invasion nach Schätzungen der Regierung in Taipeh wahrscheinlich, wie aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Regierung hervorgeht.
Um die Zivilbevölkerung auf ein solches Szenario vorzubereiten, werden auf der von Peking als abtrünnig angesehenen Insel regelmäßig Militärübungen durchgeführt. Am Donnerstag hat Präsident Lai Ching-te die erste Zivilschutzübung seiner Amtszeit geleitet. Dabei werden komplexe Katastrophenszenarien simuliert, wie etwa Angriffe auf kritische Infrastruktur. Auch die Reaktionsfähigkeit der Regierung auf zentraler und lokaler Ebene steht auf dem Prüfstand.
Die Übungen gelten als Teil einer umfassenden Strategie, um die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu stärken. Denn die Spannungen mit China nehmen zu. Peking hat seine Gebietsansprüche gegenüber dem Inselstaat zuletzt verstärkt zum Ausdruck gebracht und militärische Manöver in der Nähe der Insel intensiviert. Die Frage, wie gut Taiwan auf einen Angriff tatsächlich vorbereitet ist, scheint damit in diesem Jahr besonders drängend.
„Wenn sie uns morgen angreifen – dann müssen wir bereit sein. Und wir sind es“, sagt Hsu Szu-chien, ehemals stellvertretender Außenminister Taiwans und nun stellvertretender Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats. Das dem Präsidenten direkt unterstellte Gremium koordiniert die sicherheitspolitische Strategie Taiwans und spielt bei der Planung von Angriffsszenarien eine zentrale Rolle. Hsu gehört damit zu den einflussreichsten Architekten der sicherheitspolitischen Strategie des Inselstaats, den China als eigenes Territorium betrachtet.
Der Sicherheitsexperte hält nicht nur ein Worst-Case-Szenario für wahrscheinlich – also einen Angriff Chinas ohne Vorwarnung. Er warnt auch vor der „hybriden Kriegsführung“ Chinas, bei der militärischer Druck, Desinformation und wirtschaftliche Erpressung Hand in Hand gingen. In den militärischen Übungen der chinesischen Streitkräfte in unmittelbarer Nähe zum Inselstaat erkennt er ein klares Muster: „Sie trainieren eine echte Invasion. Wir dürfen daran keinen Zweifel haben.“
Systematische Aufrüstung Chinas
Seit Präsident Lai Ching-te im Mai 2024 sein Amt angetreten hat, hat Peking den Druck auf die selbstverwaltete Demokratie stark erhöht. Zwei groß angelegte Militärübungen rund um die Insel sowie regelmäßige Luftraumverletzungen über der inoffiziellen Grenzlinie in der Taiwan-Straße sind Ausdruck der von China aufgebauten Drohkulisse.
Erst vor wenigen Tagen meldete Peking erneut Manöver – kurz nachdem Taiwans Präsident Lai das Land in einer Rede erstmals offiziell als „feindliche ausländische Macht“ bezeichnet hatte.
Präsident Xi Jinping hat der Volksbefreiungsarmee bis 2027 das Ziel gesetzt, zu einer „modernen Streitkraft“ zu werden. Nicht nur Taiwans Regierung hält einen Angriff in diesem Jahr daher für möglich. Auch US-Geheimdienste warnen, dass China dann militärisch bereit sein könnte, die Insel anzugreifen.
Die Aufrüstung in China verläuft systematisch – mit einer Verdopplung der Raketenarsenale, dem Ausbau amphibischer Fähigkeiten, dem Einsatz ziviler Fähren für Truppenlandungen und dem Aufbau logistischer Infrastruktur wie Roll-On-Roll-Off-Schiffen. Diese können bewegliche Güter wie Pkw, Lkw, Anhänger oder Maschinen transportieren.
Gleichzeitig arbeitet Peking daran, seine zivile Infrastruktur kriegstauglich zu machen. Über das nationale Mobilisierungssystem (NDMS) kann das Regime im Ernstfall auf zivile Ressourcen zurückgreifen – von Transportkapazitäten bis zu Energie- und Lebensmittelreserven. China stockt zudem seine Rohstoff- und Nahrungsmittelreserven auf, rekrutiert erfahrene Veteranen und übt regelmäßig amphibische Operationen.
Dass die Regierung in Taiwan das Jahr 2027 nun ins Zentrum der Übungen für die Zivilgesellschaft stellt, werten politische Beobachter zum einen als Hinweis auf den politischen Ernst der Lage. Zum anderen sehen sie darin das Signal an das eigene Parlament, Geld für Rüstungsausgaben freizugeben.
„Wir müssen selbst kämpfen – und wir bereiten uns jeden Tag darauf vor“
Hinzu kommt: Auf die Schutzmacht USA will sich das Land nicht verlassen. „Wir gingen noch nie davon aus, dass US-Soldaten den Krieg für uns führen werden“, sagt Hsu. „Wir müssen selbst kämpfen – und wir bereiten uns jeden Tag darauf vor.“ Zwar sei die militärische Zusammenarbeit mit Washington eng, etwa bei Waffenlieferungen und der Ausbildung taiwanischer Soldaten. Der Ukraine-Krieg halte eine zentrale Lehre bereit: „Die Verteidigung des Landes ist keine rein militärische Aufgabe – sie betrifft die gesamte Gesellschaft.“
Washington gehört zu den wichtigsten Unterstützern des Landes, und liefert dem Land moderne Waffen wie F-16-Kampfjets, Drohnen und Luftabwehrraketensysteme. Ob die USA aber unter US-Präsident Donald Trump Taiwan im Ernstfall militärisch verteidigen würden, ist offen. Trump hatte zudem zuletzt mit Strafzöllen auf Halbleiter gedroht, dessen wichtigster Hersteller Taiwan ist.
Hsu blickt darauf mit pragmatischer Nüchternheit: „Trump ist nicht naiv – er verfolgt klare Ziele.“ Zwei davon seien offensichtlich: „Er will das Handelsdefizit reduzieren – und er will, dass wir mehr Verantwortung für unsere Verteidigung übernehmen. Daran arbeiten wir.“
Taiwan konzentriert sich dafür auf die Umstellung auf asymmetrische Kriegsführung, beispielsweise mit der Produktion von Drohnen sowie dem Aufbau dezentraler Kommandostrukturen. Diesem Zweck dient auch der Aufbau des Zivilschutzes, der mit Übungen wie in dieser Woche gestärkt werden soll.
Die jährlich stattfindende Ausgabe des Manövers „Han Kuang“, wird in diesem Sommer erstmals zehn Tage dauern – doppelt so lang wie bisher. Zum ersten Mal soll das Militär dabei auch die Verteidigung des internationalen Flughafens Taoyuan gegen Luftlandeoperationen üben.
Gleichzeitig soll simuliert werden, wie Kampfflugzeuge auf Ausweichflughäfen operieren können, wenn Hauptbasen im Ernstfall zerstört sind. Im Fokus steht außerdem die Sicherung der Seewege, die für den Import von Energie und Versorgungsgütern essenziell sind.
Die militärische Übung wird mit zivilen Komponenten ergänzt. Bei Zivilschutzübungen in Tainan sollen im Rahmen des „Han Kuang“-Manövers erstmals Hunderte Freiwillige den Aufbau von Notfallinfrastruktur trainieren – inklusive mobiler Feldlazarette und Evakuierungen.
Die Bevölkerung blickt derweil mit einer Mischung aus Pragmatismus und wachsender Besorgnis auf die Spannungen mit China. Laut einer Umfrage des taiwanischen Thinktanks Taiwan Public Opinion Foundation vom Januar 2025 glauben 65 Prozent der Befragten, dass ein Krieg mit China in den nächsten zehn Jahren möglich ist – ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren. 70 Prozent unterstützen eine stärkere Verteidigungsfähigkeit Taiwans auch durch Zivilschutzmaßnahmen und höhere Militärausgaben.
Das von China artikulierte Ziel der „Wiedervereinigung“ mit Taiwan hält Sicherheitsexperte Hsu für unrealistisch. „Wer soll hier mit wem wiedervereint werden? Wir sind ein souveränes Land. Wenn Peking reden will, dann soll es reden – aber nicht mit Gewehren.“
Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.
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