Mit einem Winkelschleifer bahnen sich die Männer ihren Weg. Funken sprühen, als das Metall des mehr als vier Meter hohen und mit Stacheldraht befestigten Zauns an der polnisch-belarussischen Grenze aufgesägt wird. Durch eine kleine Öffnung hindurch steigen die Migranten aus Belarus zur polnischen Seite. Doch die Grenzanlage ist mit Wärmebildkameras ausgestattet. Wenig später sind Einsatzkräfte des polnischen Grenzschutzes vor Ort. Schnell liegen die Migranten auf ihren Bäuchen, die Hände hinter dem Kopf oder dem Rücken.
Videos wie dieses vom 24. März dieses Jahres werden regelmäßig vom polnischen Grenzschutz veröffentlicht. 180 ähnliche Vorfälle meldete die Grenzbehörde etwa allein am 26. März. Es sind die jüngsten Zahlen einer Migrationskrise, die bereits seit Sommer 2021 andauert. Seitdem drängt das Regime des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika über die Grenze nach Polen und damit in die EU. Das Ziel: Mit illegaler Migration das Nachbarland zu destabilisieren.
Aus polnischer Sicht handelt es sich dabei um „hybride Kriegsführung“. Das Vorgehen wird vom russischen Regime unterstützt, Lukaschenko gilt als einer der wichtigsten Verbündeten des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Entsprechend hart – mit militärischen Mitteln – reagiert Warschau. Der Grenzschutz wird von tausenden Soldaten unterstützt, entlang der mehr als 400 Kilometer langen Grenze wurde ein Sperrgebiet eingerichtet. 2022 wurde die Errichtung des Grenzzauns abgeschlossen, der seitdem stetig ausgebaut wird.
Polen versucht so, der angespannten Lage beizukommen. Etliche Migranten sind in der Grenzregion an Unterkühlung oder Erschöpfung gestorben. Immer wieder werden polnische Einheiten von Migranten mit Werkzeugen oder selbst gebastelten Waffen angegriffen. Im vergangenen Jahr war erstmals ein polnischer Soldat nach einem solchen Angriff an der Grenze gestorben. Immer wieder fallen auch Schüsse. Laut polnischen Behörden provozieren belarussische Einheiten solche Situationen.
Deutliche Zunahme hybrider Angriffe
Doch „Migration als Waffe“ ist nicht das einzige Phänomen, dem sich Polen und die übrigen Länder an der Nato-Ostflanke verstärkt ausgesetzt sehen. Vielmehr diente es dem Kreml als eine Art Präludium zur Groß-Invasion der Ukraine im Februar 2022 – die mit einer massiven Ausweitung „hybrider Maßnahmen“ in Polen und den baltischen Ländern Litauen, Lettland und Estland einherging. Darunter fallen neben der forcierten illegalen Migration auch Cyber-Angriffe, Sabotage, Spionage und Desinformationskampagnen, die seit nunmehr drei Jahren in einem bislang unbekannten Ausmaß zu beobachten sind.
Die Aktionen bleiben unterhalb der Schwelle für eine notwendige Reaktion gemäß der Nato-Beistandspflicht nach Artikel 5. Vereinzelt fordern sie sie aber auch heraus, was unter den Verbündeten zu Verunsicherung führt. Etwa mit dem sogenannten GPS-Jamming im Ostseeraum, das erstmals 2024 beobachtet wurde. Immer wieder kommt es dabei zu Störungen des Satellitennavigationssystem GPS, etwa beim Flugverkehr. Das besonders betroffene Estland sieht Moskau hinter solchen Aktionen.
„Die ‚hybriden Angriffe‘ haben in den vergangenen drei Jahren stark zugenommen“, sagt Estlands Außenminister Margus Tsahkna im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Und er bestätigt: „Wir haben im vergangenen Jahr mehr als zehn Personen in Estland verhaftet, die von den russischen Geheimdiensten gesteuert und finanziert wurden.“
Zu Details äußert Tsahkna sich nicht. Doch ist bekannt, dass die Nachrichtendienste immer häufiger sogenannte „Wegwerf-Agenten“ beobachten. Dabei handelt es sich um Amateure, etwa Anwohner, die unter Vorwänden kontaktiert werden und für wenig Geld Fotos von kritischer Infrastruktur anfertigen. Kleinkriminelle werden gar zu Sabotageakten verleitet. Die Personen wissen oft nicht, in wessen Dienst sie sich begeben haben. Auch in Deutschland registrieren die Behörden solche Vorfälle immer häufiger.
Risiko der konventionellen Eskalation
An der Nato-Ostflanke ist dies indes besonders bedenklich. Über Polen zum Beispiel wird der Großteil der militärischen Hilfe für die Ukraine abgewickelt. Brandanschläge oder durchtrennte Versorgungsleitungen können die Versorgungslage an der Front stören. Zu den sich häufenden „hybriden Maßnahmen“ kommt die ständige Gefahr einer konventionellen Eskalation.
Im westlichen Verteidigungsbündnis wird davon ausgegangen, dass ein möglicher konventioneller Krieg zwischen Russland und der Nato an der Ostflanke seinen Anfang nehmen würde. Der Ostseeraum, Polen und das Baltikum gelten als gefährdet. Die Länder grenzen nicht nur an die überfallene Ukraine, sondern auch an die russische Exklave Kaliningrad und Russland im Norden.
Im Kriegsfall wären Litauen, Lettland und Estland aufgrund ihrer Lage äußerst schwer zu verteidigen. Wegen der Suwalki-Lücke – benannt nach der Stadt im Nordosten Polens – wären sie schnell von Nato-Territorium und damit von der Versorgung abgeschnitten. Der Landstreifen zwischen Belarus und Kaliningrad bildet die einzige Landverbindung der baltischen Staaten zum übrigen Nato-Gebiet und ist nur rund 65 km breit. Der Blick der Nato-Planer richtet sich deswegen vermehrt auf den exponierten Korridor.
Insbesondere Kaliningrad stellt für das Baltikum und Polen eine Bedrohung dar. Laut einem neuen Bericht des estnischen Auslandsgeheimdienstes versucht Moskau auch die nukleare Drohung in der Region zu steigern. So wurde eine Lagerstätte mit taktischen Nuklearwaffen in Kaliningrad zunächst vollständig instand gesetzt und anschließend von einem sogenannten lokalen zu einem nationalen Depot umgewandelt.
Diese Entwicklung erhöhe nicht nur die Bedeutung des Standortes für die russische Nuklearstrategie, sondern reduziere für die Bevölkerung in Estland oder Lettland auch „die Vorwarnzeiten bei einem potenziellen Einsatz der Waffen“, schreiben die Geheimdienstexperten. Zuvor lag das nächstgelegene größere Nukleardepot immerhin 600 Kilometer von Estland entfernt, im russischen Oblast Wologda.
Grenzanlagen werden verstärkt
Die Geheimdienstexperten warnen auch davor, dass Russland seine Truppenpräsenz an der Grenze zu Estland im Vergleich zum Zeitraum vor Beginn des Ukraine-Krieges deutlich erhöhen würde, falls Moskau den Ukraine-Krieg gewinnen oder der Konflikt „eingefroren“ werden sollte. Bereits 2024 habe Moskau den sogenannten Leningrader Militärdistrikt mit mehreren Zehntausend Kräften wieder aufgebaut. Darunter befände sich auch das 44. Armeekorps und die sechste Feldarmee, die derzeit in der Ukraine Kampferfahrung sammeln sollen und langfristig in der russischen Region Karelien nahe der Grenze zu Finnland stationiert werden dürften.
Polen und die baltischen Staaten antworten auf diese Bedrohung mit einer deutlichen Steigerung ihrer Verteidigungsausgaben. Allesamt übererfüllen sie das Zwei-Prozent-Ziel der Nato deutlich. Polen gibt aktuell mehr als vier Prozent seiner Wirtschaftskraft für Verteidigung aus, in diesem Jahr soll der Wert auf fünf Prozent steigen. Litauen, Lettland und Estland haben im vergangenen Jahr 2,9 beziehungsweise 3,2 und 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in ihre Armeen gesteckt.
Polen hat im vergangenen Jahr außerdem angekündigt, den „Schutzschild Ost“ zu errichten. Die Grenzanlage zu Belarus soll ebenfalls als Schutz vor einem möglichen russischen Angriff dienen und wird künftig mit Schützengräben, Bunkeranlagen, Drohnenschwärmen und Luftraumüberwachung ergänzt. Es ist eine Milliardeninvestition – die die baltischen Staaten offenbar inspiriert, ihre Grenzanlagen ebenfalls zu verstärken.
Jüngst kündigten die vier Länder an, aus dem Ottawa-Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen aussteigen zu wollen. Das erlaubt ihnen, die darin geächteten Landminen wieder produzieren, lagern und auch einsetzen zu können. Es wird erwartet, dass auch Finnland bald ankündigt, aus dem internationalen Abkommen auszutreten.
Der Vertrag wurde 1997 abgeschlossen und von mehr als 160 Staaten – darunter Deutschland – unterzeichnet. Russland selbst ist dem Übereinkommen nie beigetreten – was ein Grund für den Schritt von Polen und Balten ist, auch mit Minen verstärkt ihre Grenzen zu sichern.
„Wir haben unsere politischen Entscheidungen getroffen, aus dem Landminenübereinkommen von Ottawa auszutreten“, erklärt der estnische Außenminister Tsahkna WELT AM SONNTAG. „Wenn Russland kommt, dann müssen wir zurückschlagen“, fügt er hinzu. Europa müsse geschützt werden – und man könne nicht „mit einer Hand hinter dem Rücken kämpfen“. Diese Haltung will man den Partnern und anderen Mitgliedern der Konvention nahebringen. Doch Tsahkna macht auch deutlich: „Wir sind bereit für Kritik. Aber wir fordern auch Verständnis für unsere Situation.“
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über die EU, die Nato und Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
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