Rund hundert Kilometer südlich von Damaskus springen vier Männer von der Ladefläche eines Pick-ups. Drei tragen Kalaschnikows, einer eine Handwaffe zur Panzerabwehr. Aber Soldaten sind es nicht, sie folgen keiner Regierung. In der Region Suweida, einem Gebiet, das den neuen syrischen Machthabern verschlossen bleibt, haben die Drusen das Sagen.

Seit die neuen Herrscher im Dezember den langjährigen Diktator Baschar al-Assad gestürzt haben, erheben sie Anspruch auf das gesamte Land. Doch bis heute ist es ihnen nicht gelungen, ein Gewaltmonopol zu errichten. Der Nordosten des Landes wird von kurdischen Gruppen beherrscht. Im Westen verüben Assad-Loyalisten Angriffe auf Sicherheitskräfte.

Wie angespannt die Lage ist, zeigte sich diese Woche auch am geplanten Besuch von Bundesinnenministerin Nancy Faeser, der kurz vor ihrer Ankunft aufgrund konkreter Hinweise auf Terrorgefahr abgesagt wurde. Syrien bleibt ein Flickenteppich, begleitet von der Sorge, dass das Land wieder in Gewalt abgleitet.

Im Süden von Damaskus, in der Gegend um Suweida, tragen nur die Drusen offen ihre Waffen. Sie sind eine Minderheit in Syrien mit ihrer ganz eigenen, vom Islam beeinflussten Religion. Sie wollen sich nicht unterwerfen, denn sie fürchten um ihre Rechte und um ihre Sicherheit.

Zu den vier Männern vom Pick-up sind weitere gestoßen, ein knappes Dutzend marschiert auf einem unbefestigten Pfad in Richtung mehrerer Baracken. Sie sind auf Patrouille. „Wir tragen Waffen, um unser Land zu verteidigen“, sagt Saleh Shaarani, der die Gruppe anführt. „Seit vielen Jahren leben wir mit Christen und anderen religiösen Gruppen zusammen, es ist normal für uns.“ Jetzt aber mache er sich Sorgen, sagt er, wegen der „Massaker in der syrischen Küstenregion“.

Anfang des Monats war es im Westen Syriens zu schweren Kämpfen zwischen Regierungskräften und Alawiten gekommen, einer religiösen Gemeinschaft, der auch Ex-Diktator Assad angehört. Die neuen Machthaber reagierten mit einer Militäroperation, aus mehreren Städten strömten Kämpfer in die Region. Hunderte Menschen, vor allem Alawiten, wurden regelrecht hingerichtet.

Hier in Suweida traut man der Übergangsregierung unter Präsident Ahmed al-Scharaa nicht zu, die Gewalt einzudämmen. Manche, wie Drusen-Anführer Shaarani, betrachten die neuen Machthaber als Teil des Problems. Sharaanis Cousin Kinan gehört ebenfalls zu der Gruppe, die sich selbst als paramilitärische Kraft bezeichnet.

Er ist 35 Jahre alt, trägt einen Bart, der ihm bis unters Schlüsselbein reicht, und hat die Panzerbüchse geschultert. Am Eingang eines Tunnels hält er inne und mustert einen geparkten Bus. Plünderer, vermutet er. Dabei gibt es in dem Bunker, der zu Zeiten Assads eine Radarstation war, nichts mehr zu holen. Die Ausrüstung, verbautes Metall, Möbel, alles weg.

Drinnen inspiziert Kinan Sharaani im Licht der Taschenlampe seines Smartphones den ehemaligen Betriebsraum. Über der Tür hängt noch ein Poster von Assad. Er streckt seine Hand aus und reißt Fetzen aus dem Gesicht des gestürzten Diktators. Der Druse musste früher für Assads Militär kämpfen, verließ es aber im Jahr 2012 und schloss sich der Freien Syrischen Armee an. Er wurde zum Rebellen, der gegen die Herrschenden kämpft.

Heute ist der Diktator gestürzt, aber ein Rebell ist Kinan Shaarani noch immer. „Ich habe die Ausbildung und Fähigkeiten, Mitglied der staatlichen Streitkräfte zu werden“, sagt er. „Wenn diese Armee“ – er meint die Streitkräfte der neuen Machthaber – „wahrhaftig eine Armee wäre, würde ich sofort beitreten. Aber sie sind nur eine Miliz. Sie haben keinen Respekt.“

Die Drusen fühlen sich ausgeschlossen und bedroht

Der Mann, auf dessen Kommando die Sharaanis und ihre Mitstreiter hören, ist Scheich Hikmat al-Hijri. Er trifft alle religiösen, politischen und militärischen Entscheidungen. Separatistische Bestrebungen lehnt er ab, fordert aber eine föderale Struktur, in der die Drusen Autonomie bewahren können.

Sein Sprecher, Yasser Abo Fakher, ist ebenfalls ein hochrangiger Geistlicher. Er erklärt, ein zentrales Problem liege im Entwurf einer syrischen Verfassung, die Präsident al-Scharaa im Februar vorgestellt hat. Die vorgelegte Erklärung sei „auf eine bestimmte Ideologie und eine bestimmte Gruppe beschränkt“, in der sie sich nicht wiederfinden.

Während des Interviews wird Tee gereicht. Es ist Ramadan, der muslimische Fastenmonat, aber die Drusen fasten nicht. Auch der Scheich sieht die Vorfälle an der Küste als Warnsignal. „Wir unterstützen nicht die Tötung unschuldiger Kinder und Frauen, unabhängig von ihrer Konfession oder ihrem Hintergrund“, sagt er. „Syrien war immer Zentrum eines gemäßigten Islam. Eines barmherzigen, moderaten Islam. Gegründet auf Brüderlichkeit und Zusammenarbeit, nicht auf Blutvergießen im Namen von ‚Allahu Akbar‘.“

Das kann man als Anspielung auf die neue Regierung verstehen. Aus Sicht der Drusen gibt es aber weitere Bedrohungen, „Im Osten, in der Wüste, ist der Islamische Staat“, sagt der Scheich. „2018 haben wir 300 Männer, Alte, Frauen und Kinder durch ihn verloren.“ Den Schutz der eigenen Leute gegen Terroristen, Kriminelle und Banden wollen die Drusen nicht aus der Hand geben.

Israel ist als Schutzmacht nicht willkommen

Zwischen Suweida, dem Machtzentrum der Drusen, und Damaskus, dem Machtzentrum der Regierung, liegt Jaramana. Der Ort gehört zur Metropolregion. Auch dort leben viele Drusen, aber die Bevölkerung ist gemischter als in Suweida – und das Verhältnis zu Damaskus komplizierter.

Anfang März kam es in Jaramana zu einem Zwischenfall, bei dem ein Vertreter der Sicherheitskräfte der neuen Regierung getötet wurde. Es kursieren Berichte, die sich in der Analyse der Ursache widersprechen.

Klar ist aber, dass sich die Regierung und lokale Anführer im Anschluss auf eine erste, vorsichtige Kooperation einigten. In der Polizeistation von Jaramana arbeiten nun drusische Kräfte und solche der Regierung zusammen. Die militärische Sicherheit aber bleibt vorerst in den Händen der Drusen.

Rund um den Ort werden alle einfahrenden Fahrzeuge kontrolliert. Walid Sawan hat die Aufsicht über diese Checkpoints. Er ist Teil der „Freiwilligen Kräften zur Verteidigung Jaramanas“. Seine Leute sitzen in einem Gebäude, das bis vor wenigen Monaten von der Assad-Regierung genutzt wurde. Im Flur prangt noch die alte Flagge auf der Wand, ihr oberer Streifen ist rot statt grün.

„Wir haben 600, 700, vielleicht 1000 Leute“, sagt Sawan. „Aber wenn wir uns in Gefahr wähnen, werden alle, die hier leben, eine Waffe in die Hand nehmen und mit uns kämpfen.“

Die Drusen haben eine andere Schutzmacht: Israel. Die Regierung in Jerusalem will eine Präsenz syrischer Soldaten südlich von Damaskus nicht dulden. Auch, um die Drusen zu schützen, die in Israel ebenfalls eine bedeutende Minderheit stellen.

„Wenn das Regime den Drusen schadet, werden wir ihm schaden“, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Doch in Suweida will man diesen Schutz nicht. „Israel hat kein Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen“, sagt Scheich Yasser Abo Fakher. „Wir haben nicht um seine Intervention gebeten.“ Das Land säe Zwietracht, Zerstörung und Spaltung innerhalb Syriens.

Es dämmert in Suweida. Der letzte Checkpoint auf der Straße nach Damaskus wird in diesen Stunden besonders streng kontrolliert. Nachts ist die Straße nicht sicher, Banden treiben ihr Unwesen. Ein russisches Maschinengewehr, auf einem Pick-up montiert, zeigt auf ankommende Fahrzeuge. Man wolle keine Auseinandersetzung mit den neuen Machthabern in Damaskus, versichern die Männer. Aber ihre Waffen haben sie stets griffbereit.

Carolina Drüten ist Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul. Sie berichtet außerdem über Griechenland, die Länder des westlichen Balkans, Rumänien und die Republik Moldau. Im Auftrag von WELT ist sie als Autorin und Live-Berichterstatterin für den Fernsehsender unterwegs.

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