Schon in wenigen Jahren könnte Russland ein anderes Land in Europa angreifen. Deutschland und seine Partner müssen daher verteidigungsfähig werden. Warum, das zeigt nicht zuletzt ein Besuch in Cherson.

Viel Zeit haben wir in Deutschland mit spekulativen Debatten um unsere Sicherheit verschwendet. Nachdem wir 14 Jahre über die Bewaffnung von Drohnen debattiert hatten, waren Drohnen weltweit bewaffnet - nur bei uns nicht. Nach Putins Invasionen in Tschetschenien, Georgien und in der Ostukraine redeten wir uns jahrelang ein, die Invasionstruppen hätten sich nur verlaufen. Aber das hatten sie nicht.

Im neu gewählten Bundestag wollen mehr als ein Drittel der Abgeordneten diesen Kurs des hoffnungsvollen Wünschens fortsetzen. Dieser naive Blick auf Russland ist jedoch eine Anleitung zum Scheitern. Wir brauchen genau das Gegenteil: eine Politik, die auf das Beste hofft – und sich gleichzeitig auf das Schlechteste vorbereitet. Wir brauchen das Stachelschwein-Prinzip.

Im ukrainischen Cherson stand ich in einem bombardierten Kinderkrankenhaus. Es wurde vor meinem Besuch bombardiert. Es wurde nach meinem Besuch bombardiert. Russland hat inzwischen gut zwei von drei aller Krankenhäuser in der Ukraine systematisch bombardiert. Die Ärztin und die Kinder, mit denen ich in Cherson sprach, haben keine Schuld an den Bomben auf ihr Krankenhaus. Sie haben nichts getan, um diese Bombardements zu provozieren. Sie werden bombardiert, weil ein Diktator ihr Land für leichte Beute hielt. Weil sie wehrlos schienen.

Vorbereitung auf Krieg hilft, ihn zu verhindern

Daraus müssen wir lernen. Konkret müssen wir wieder lernen für eine Welt zu arbeiten, die wir uns wünschen UND uns gleichzeitig auf eine vorzubereiten, die wir fürchten. Es ist wünschenswert und es lohnt Krankenhäuser zu sanieren - auch das in Cherson. Es lohnt aber umso mehr, je besser diese Krankenhäuser durch Luftverteidigung geschützt sind. Nur weil wir keine Krankenhäuser bombardieren, heißt das nicht, dass andere davor zurückschrecken. Der Diktator im Kreml tut es nicht.

Unsere Vorbereitung auf Putins nächsten Angriffskrieg hilft, diesen zu vermeiden. Wenn wir wollen, dass kein Land in Europa mehr vom Diktator im Kreml angegriffen wird, müssen wir dafür sorgen, dass auch der Schwächste geschützt ist. Das erreichen wir durch Zusammenstehen - dadurch das auch das kleine Estland sich auf die Partner Polen und Deutschland verlassen kann. Um einen weiteren Angriffskrieg in Europa zu vermeiden, muss Europa zu einem Stachelschwein werden.

Niemand muss ein Stachelschwein fürchten - außer derjenige, der es angreift. Das Stachelschwein plant nicht das Raubtier anzugreifen, aber es macht einen Angriff für dieses Raubtier schmerzvoll und damit unattraktiv.

Heute sind wir Europäer kein Stachelschwein. Wenn wir ehrlich sind, haben wir uns viel zu lange nicht gegenseitig aufeinander verlassen, sondern auf Dritte - die USA. Wir müssen uns schnell wieder aufeinander verlassen können. Dafür braucht es den politischen Willen zum gemeinsamen Schutz eines europäischen Friedensraums. Gleichzeitig braucht es aber auch die Stacheln dazu.

Wir müssen ein Stachelschwein werden. Wir müssen uns schnell Wehrstacheln wachsen lassen, die uns für das Raubtier aus dem Osten unattraktiv machen. Dafür braucht es in Europa eine Verteidigung, die integriert funktioniert. Eine Verteidigung, die jeden mitschützt. Es braucht einen ausreichenden Anteil der Bevölkerung in den europäischen Staaten, die über grundhafte Fähigkeiten verfügen, diesen Friedensraum zu verteidigen. Es braucht eine europäische Verteidigungsindustrie, die auch funktioniert, wenn Ersatzteile und Softwareunterstützung aus den USA ausbleiben.

Das Stachelschwein muss allein abwehrbereit sein. Es verlässt sich nicht auf Dritte.

Alles, was gebraucht wird, in Europa produzieren

Die russische Volkswirtschaft ist kleiner als die italienische. Russland ist dennoch eine Gefahr für einen europäischen Friedensraum, weil seine Kriegswirtschaft weit über den Bedarf für die Ukraine hinaus rüstet. Weil viele bei uns so tun, als wäre Putin ein ukrainisches Problem, wird das zu einem Problem für den Rest Europas. Es wird unser Problem.

Viel ist zu tun, wenn wir einen Angriff auf Europa schmerzvoll für Putin machen wollen. Europäische Streitkräfte müssen gemeinsam üben. Vorbereitet und skaliert auf alle Bedrohungsszenarien. Europäische Streitkräfte müssen Logistik und Nachschub ohne transatlantische Partner simulieren. Alles, was wir zur Abwehr eines Angriffskriegs gegen Europa benötigen, sollte schnell in Europa produziert werden können.

Der ranghöchste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Carsten Breuer, geht davon aus, dass ein Angriff Russlands auf einen europäischen Staat ab 2029 realistisch sein kann. Wir werden es nicht schaffen bis 2029 alle Fähigkeiten vollumfänglich aufzubauen, die es zur Abwehr dieses Angriffs braucht, aber wir sollten es in möglichst vielen Bereichen versuchen.

Wir leben in einer Ansammlung friedlicher Demokratien. Um im Bild der Tierwelt zu bleiben: In Europa leben wir aktuell in einem ein Biotop von Pflanzenfressern. Seit Generationen mussten wir keine Raubtiere mehr abwehren. Das war nicht immer so. Und das muss nicht so bleiben. Wenn wir unsere Art zu leben für besser halten als die russische, dann müssen wir bereit sein, dafür zu kämpfen. Das Stachelschwein muss abwehrbereit werden. Es muss seine Stacheln schärfen.

Stromstöße kaum auszuhalten

Im befreiten Cherson sprach ich mit einem ehemaligen ukrainischen Polizisten. Während der Besatzung der Stadt wurde er über Wochen gefoltert. Er beschrieb mir, dass er mit den Schlägen umgehen konnte, nicht aber mit den Stromstößen. Er beschrieb mir, dass die Elektroden an seinen Ohrläppchen befestigt wurden und wie der Strom durch seinen Kopf strömte. Er beschrieb mir auch, wie die Elektroden an den sensibelsten Stellen seines Körpers befestigt wurden und wie jeder einzelne Stromstoß dort kaum auszuhalten war.

In dem völlig überfüllten Foltergefängnis saßen unter der russischen Besatzung hunderte Ukrainer ein. Diese Orte der Folter gibt es überall, wo Putin herrscht.

Wir müssen dafür sorgen, dass sein Herrschaftsbereich nicht bis zu uns kommt. Nicht zu uns nach Deutschland und nicht zu unseren europäischen Partnern.

Wenn wir das Biotop der Pflanzenfresser erhalten wollen, müssen wir schnell zum Stachelschwein werden. Wir haben uns mit der Unterstützung der Ukraine Zeit erkauft. Nun gilt es keine Zeit mehr zu verschwenden.

Der Verteidigungsexperte Dr. Marcus Faber leitete zuletzt den Bundesverteidigungsausschuss und setzte sich seit Kriegsbeginn für die Unterstützung der Ukraine ein.

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