Gerade erst ist die Maschine mit Margus Tsahkna an Bord in Berlin gelandet. Der estnische Außenminister kommt aus Washington zurück, wo er am Dienstag unter anderem seinen Amtskollegen Marco Rubio getroffen hat. Der 47-Jährige hat in der US-Hauptstadt die Sicht der baltischen Staaten auf die Sicherheitslage in Europa dargelegt – und versucht zu erfahren, wo die Regierung von Donald Trump in der Sache steht.
WELT: Herr Minister, Estland grenzt an Russland; Maßnahmen „hybrider Kriegsführung“ haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Sicherheitslage Ihres Landes und Europas allgemein?
Margus Tsahkna: 2016, als ich Verteidigungsminister war, standen noch 120.000 russische Soldaten auf der anderen Grenzseite. Innerhalb von 48 Stunden hätten sie mobilisiert werden können. Das ist heute nicht mehr der Fall. All diese Soldaten scheinen in die Ukraine verlegt worden zu sein. Russland verfügt derzeit nicht über die Mittel, um auch gegen uns einen vollumfänglichen, konventionellen Krieg zu führen. Ich will betonen, dass wir in unserer Region auch britische, französische und US-Truppen haben; Finnland und Schweden sind der Nato beigetreten. Mit Blick auf unsere militärischen Fähigkeiten sind wir stärker als je zuvor. Wir müssen uns jedoch auf eine dauerhafte Konfrontation mit Russland einstellen – auch wenn es zu einem Waffenstillstand oder Frieden in der Ukraine kommt. Wir in Europa müssen deswegen schnell aufwachen – und wir wachen auf. Schauen wir doch nur darauf, was in Deutschland geschieht, dass die Beschränkungen im Haushalt aufgehoben werden und die künftige Regierungskoalition bereit ist, stark in Verteidigung zu investieren. Es ist der richtige Weg.
WELT: Europa, speziell Estland, ist bereits jetzt „hybriden Maßnahmen“ wie Cyberangriffen oder Sabotage ausgesetzt.
Tsahkna: Das ist richtig. Diese Maßnahmen haben in den vergangenen drei Jahren stark zugenommen. Wir haben allein 2024 mehr als zehn Personen festgenommen, die vom russischen Geheimdienst gesteuert und finanziert wurden. Wir sehen entsprechende Aktionen in ganz Europa: das Beschädigen von Unterseekabeln, Cyberangriffe, Informationsoperationen. Russland ist wirklich aktiv.
WELT: Neben „hybrider Kriegsführung“ sprachen Sie auch schon von „konventionellem Krieg“. Einige Experten gehen davon aus, dass Russland in wenigen Jahren, also noch in diesem Jahrzehnt, dazu fähig sein wird, die Nato konventionell herauszufordern. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?
Tsahkna: Militärisch ist Russland dazu im Moment nicht fähig, „politisch“ aber schon. Russland führt seit drei Jahren Krieg gegen die gesamte Ukraine, das Land hat diese rote Linie also schon überschritten. Es ist schwieriger, einen Krieg „politisch“ zu beginnen und das Land dahin gehend zu mobilisieren, als praktisch-militärisch. Es ist offensichtlich, dass Putin sein aggressives Verhalten fortsetzen wird, weil er seine Kriegsmaschinerie nicht einfach anhalten kann. Letztlich hängt die Frage, ob er die Nato angreifen wird, von uns ab. Dabei ist wichtig, dass die Nato geeint ist und dann sind da unsere Fähigkeiten: Die Nato ist viele Male stärker als Russland. Aber es ist unklar, ob uns von der ersten Sekunde eines Konflikts an alle Fähigkeiten zur Verfügung stehen. Deswegen müssen wir das Tempo erhöhen. Estland hat beschlossen, seine Verteidigungsausgaben absehbar auf fünf Prozent (des Bruttoinlandsprodukts, Anm. d. Red.) zu erhöhen. Es gibt Pläne, wie wir unsere Region schützen können. Auch andere tun viel, die nordischen Länder, Polen und auch Deutschland. Wir müssen den Preis für Putin so hoch ansetzen, dass er sich nicht verkalkulieren kann. In der Ukraine nämlich hat er sich verkalkuliert. Er wollte eine dreitägige „Spezialoperation“ durchführen und ist jetzt schon seit mehr als drei Jahren im Krieg. Die Gespräche mit den USA versucht er zu nutzen, um zu bekommen, was er im Krieg nicht bekommen konnte.
WELT: Es sei wichtig, dass die Nato geeint sei, sagten Sie. Doch ist das heute noch so? Die neue US-Außenpolitik schockiert viele Europäer. Donald Trump scheint nicht viel an der Nato und den europäischen Verbündeten gelegen zu sein.
Tsahkna: Wir haben alle verfolgt, was Wolodymyr Selenskyj im Oval Office widerfahren ist. Doch am selben Tag wurde Trump auch nach dem Baltikum gefragt. Er erklärte, dass die Balten einen schwierigen Nachbarn hätten und er sich für sie und auch die Nato einsetzen werde. Ich komme gerade von einem Besuch aus Washington zurück. Mit meinem lettischen und litauischen Kollegen habe ich US-Außenminister Marco Rubio getroffen und mit Militärs gesprochen. Die Botschaft, die Trump an jenem Tag vermittelt hat, haben wir jetzt auch in Washington bekommen.
WELT: Gleichzeitig sprechen Amerikaner und Russen wieder miteinander – offenbar über die Köpfe der Europäer hinweg. Dabei geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um einen amerikanisch-russischen „Reset“; Trump droht, Grönland zu „übernehmen“, Zölle gegen die Europäer werden verhängt und gerade erst hat die Signal-Affäre offenbart, wie tief die Abneigung von Teilen der US-Administration gegenüber Europa ist. Wie passt das zu dem, was Sie eben gesagt haben?
Tsahkna: Die Trump-Regierung weiß sehr gut, was Estland, Lettland, Litauen und Polen im Hinblick auf die Verteidigung leisten. Auch, dass Finnland wehrhaft ist, wird in Washington registriert.
WELT: Aber Europa als Ganzes…
Tsahkna: Ja, die Europäische Union ist nicht gerade Trumps Lieblingsorganisation. Es gibt die „America First“-Politik und die müssen wir sehr ernst nehmen. Es geht um Wirtschaft und Einfluss. Tatsächlich soll Russland an den Westen herangeführt und so dessen Abhängigkeit von China verringert werden. Trump hat viele Interessen. Wir aber betrachten alles hauptsächlich durch unsere Brille von Verteidigung und Sicherheit. Das sind europäische Interessen, die EU ist hier aber nicht alles. Vielfach – das sehe ich – geht es um eine Koalition der Willigen. Dabei spielen Großbritannien und Norwegen wichtige Rollen, natürlich die Ukraine. Wir leben in Zeiten, in denen wir vielleicht nicht jeden Tweet aus den USA verfolgen müssen, aber wir müssen ernst nehmen, wovon Trump spricht. Und er redet über amerikanische Interessen. Wir müssen über europäische Interessen sprechen.
WELT: Sie erwarten, dass das in Washington gesehen wird?
Tsahkna: Ich denke, dass es, sobald die neue deutsche Regierung im Amt ist, zu einem sehr interessanten Treffen zwischen dem amerikanischen Staats- und dem deutschen Regierungschef kommen wird. Deutschland wird seinen großen Investitionsplan vorlegen. Ich denke, dass Deutschland in Europa wieder die Führungsposition einnehmen wird, die es einmal hatte.
WELT: Es gibt Gerüchte über die Wiedereröffnung der Nord-Stream-Pipeline. Was würde das für Estland bedeuten?
Tsahkna: Wir haben uns immer gegen die Errichtung von Nord Stream 1, vor allem aber von Nord Stream 2 ausgesprochen. Denn wir waren uns darüber im Klaren, dass es unmöglich ist, Putin mit wirtschaftlichen Beziehungen einzubinden. Leider hatten wir Recht. Wir haben damals mit Angela Merkel gestritten und debattiert. Uns wurde gesagt, dass dies ein „rein wirtschaftliches Projekt“ sei, aber mit Russland gibt es nichts allein Wirtschaftliches. Es ist alles politisch. Ich denke also, dass eine Wiedereröffnung von Nord Stream der falsche Weg wäre. Putin braucht dringend wirtschaftliche Unterstützung, um aus der Isolation und den Sanktionen herauszukommen, denn seiner Wirtschaft geht es nicht gut.
WELT: In den letzten drei Jahren waren die Beziehungen zwischen Deutschland und den baltischen Ländern, nicht nur Estland, etwas „wackelig“. Kanzler Olaf Scholz wurde für seine anfängliche Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine kritisiert. Wie blicken Sie vor diesem Hintergrund auf den Regierungswechsel in Deutschland?
Tsahkna: Offen gestanden weiß ich nicht, woher Ihre Einschätzung rührt. Ich denke, dass unsere Beziehungen über die ganze Zeit gut waren. Natürlich gab es viel Kritik an Scholz. Aber seien wir mal ehrlich, Deutschland hat viel getan. In Zahlen ausgedrückt ist Deutschland der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA. Aber irgendwie hat man das Gefühl, dass es immer Diskussion um Deutschlands Unterstützung gab.
WELT: Estland, Lettland, Litauen und Polen gelten aufgrund hoher Verteidigungsausgaben vielen als Vorbilder in der Nato. Nun aber ziehen Ihre Regierungen Kritik auf sich, weil Sie angekündigt haben, aus dem Ottawa-Abkommen auszusteigen, der Übereinkunft über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung. Welches Kalkül steckt dahinter?
Tsahkna: Ja, wir haben die politischen Entscheidungen getroffen, aus dem Landminenabkommen von Ottawa auszutreten. Finnland wird seine Entscheidung, glaube ich, innerhalb des nächsten Monats treffen. Russland selbst hat das Abkommen nicht unterzeichnet. Wenn Russland kommt, dann müssen wir zurückschlagen. Europa muss geschützt werden – und man kann nicht mit einer Hand hinter dem Rücken kämpfen. Diese Haltung wollen wir unseren Partnern und anderen Mitgliedern der Konvention nahebringen. Wir sind bereit für Kritik. Aber wir fordern auch Verständnis für unsere Situation. Das ist eine sehr klare Botschaft an Putin, dass wir bereit sind, unsere Grenzen zu schützen, koste es, was es wolle.
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.
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