Nach der Niederlage bei Kursk stoßen die Ukrainer nun in den Raum Belgorod vor. Zugleich müssen sie die Russen daran hindern, jenseits der Grenze auf ukrainisches Gebiet vorzustoßen. Dafür sind die Bedingungen laut Einschätzung von Oberst Markus Reisner allerdings bestens. Von einem Waffenstillstand sieht der Militärhistoriker die Kriegsparteien weit entfernt.

ntv.de: Herr Reisner, schon vor zehn Tagen etwa hatte sich die russische Seite mit der ukrainischen auf 30 Tage Waffenruhe mit Blick auf Angriffe gegen kritische Infrastruktur geeinigt. Ist die bemerkbar?

Markus Reisner: Tatsächlich weiß niemand, ab wann diese Waffenruhe gelten soll, derzeit zumindest sehen wir davon nichts. Die Angriffe beider Seiten gegen Infrastruktur des Gegners gehen unvermindert weiter. Allein in der vergangenen Woche hatte die russische Armee etwa 1000 heimtückische Geran-2-Drohnen gegen Ziele in der Ukraine im Einsatz. In Videos ist zu sehen, wie nicht wenige dieser Drohnen nicht abgeschossen werden konnten, sondern tatsächlich in urbanen Gebieten einschlagen. Zudem hat der ukrainische Generalstab 1310 Angriffe russischer Gleitbomben gezählt. Diese zermürben die ukranischen Verteidgungsstellungen an der Front, Statt einer Waffenruhe eskaliert die Lage sogar.

Vergangene Woche hatten die Ukrainer im Raum Kursk noch einen schmalen Streifen von zwei bis fünf Kilometern unter Kontrolle. Wie sieht es jetzt aus?

Russland hat die Grenze nun endgültig zurückgewonnen. An der Grenzstation südwestlich von Sudscha haben die Moskauer Truppen ihre Flagge gehisst. Noch etwas südlich davon gibt es ein Gebiet von wenigen Quadratkilometern, von wo die Ukrainer noch nicht komplett abgezogen sind. Aber das ist verschwindend klein. Noch einmal weiter südlich, in der russischen Region Belgorod, versuchen die Ukrainer hingegen neuerlich, Angriffe durchzuführen und wieder auf Feindgebiet vorzustoßen. Um die Ortschaften Popowka und Demidowka geht es gerade konkret. Man will die Russen zwingen, dorthin Kräfte zu verlegen.

Das heißt, die russischen Kräfte werden nach ihrem Einsatz in Kursk nicht frei, um einfach weiter nach Westen vorzustoßen? Also den Schwung, mit dem sie die Ukrainer hinter die Grenze getrieben haben, für einen Vorstoß auf ukrainisches Gebiet zu nutzen?

Das ist sicherlich ein Ziel dieser Angriffe auf Belgorod: Die Russen daran zu hindern, massiv weiter auf die ukrainische Seite vorzudringen. Daneben geht es um Bilder. Die Ukrainer wollen Erfolge darstellen, wollen zeigen: Wir haben es erneut geschafft, auf russisches Territorium vorzudringen.

Wie gut gelingt denn dieser Versuch, die Russen an Angriffen auf ukrainisches Gebiet zu hindern?

Wir sehen bereits, dass Russen nachrücken und auf ukrainisches Gebiet vorstoßen. Das ist eine Gefahr für die ukrainische Stadt Sumy, die südwestlich des Kursker Kampfgebiets liegt und schon zu Anfang des Krieges eine Zeit lang hart umkämpft war. Hier haben die Verteidiger aber einen Vorteil: Zwischen den russischen Truppen und der Stadt liegt ein großes Waldgebiet, etwa 20 Kilometer breit und bis zu 40 Kilometer in der Nord-Süd-Ausdehnung. Der Wald bietet einen natürlichen Schutz für die ukrainischen Abwehrstellungen. Wenn die Russen weiter vorstoßen wollten, müssten sie mitten durch oder das Waldgebiet weiträumig umgehen.

Versuchen die russischen Truppen das?

Die Russen haben bislang keine größeren Kräfte zusammengezogen. Aber ihre Truppen bewegen sich langsam vorwärts in Richtung des genannten Waldgebiets. Sie müssen dabei über weitgehend freies Gelände. Das tun sie allerdings sehr langsam, weil die Ukrainer stark Gegenwehr leisten. Aus dem Schutz des Waldgebiets heraus halten sie die Russen mit weitreichenden Waffensystemen unter Druck. Es ist also wesentlich einfacher für die Ukrainer, sich dort zu verteidigen, als für die Russen anzugreifen.

Wenn Sie sagen, die Ukrainer nutzen weitreichende Waffen, was ist das dann? Artillerie?

Zum Beispiel, ja. Die Artilleriesysteme lassen sich natürlich im Wald viel besser verbergen als im offenen schutzlosen Gelände. Die Geschütze funktionieren zudem optimal auf diese Distanz. Also 15 bis 20 Kilometer Entfernung zum Feind - das ist perfekt für einen Artilleriekampf. Dazu kommen auch Drohnen zur Aufklärung und für den Angriff. Im Raum Sumy sind die Ukrainer gerade im Vorteil gegenüber den russischen Angreifern. Das ist sehr gut sichtbar. Das hält die Russen aber nicht ab. Zudem können sie die Ukrainer sehr detailliert aufklären und greifen immer wieder auch mit ballistischen Raketen des Typs Iskander ukrainische Stellungen an. Zumindest suggerieren das russische Videos, die zerstörte ukrainische Fahrzeuge zeigen. Oft sind aber auch nur Einschläge im Wald zu sehen, mit unklarer Trefferwirkung.

Was kann man daraus schließen?

Bei diesen Bildern bleibt die Frage offen, ob wirklich eine Stellung der Ukrainer getroffen wurde oder nicht. Was aber deutlich wird: Die Russen versuchen hier, eine Vorbereitung künftiger Operationen durchzuführen. Sie wollen also das Gefechtsfeld für einen weiteren eigenen Vorstoß aufbereiten, indem sie die Abwehrfähigkeiten der Ukrainer verringern.

Wenn die Russen sich fast ohne Schutz in freiem Gelände vorarbeiten, müssen sie hohe Verluste in Kauf nehmen. Ist es aus rein militärischer Sicht dennoch klug, diesen Angriff durchzuführen?

Richtig, die Russen sind auf freiem Feld sehr leicht aufzuklären und gut angreifbar. Wenn es rein nach Opferzahlen ginge, müsste man viele der russischen Angriffsoperationen hinterfragen. Da aber Verluste für die russische Seite offensichtlich kein Thema sind, sondern es darum geht, langsam aber stetig vorzumarschieren, ergibt das aus ihrer Sicht Sinn. Das trifft und traf übrigens auch schon verschiedentlich für die Ukrainer zu. Denken Sie an die drei ukrainischen Marinebrigaden bei Krinky, die von den Russen nach und nach zerschlagen wurden. Oder auch die ukrainischen Offensiven bei Saporischschja 2023 oder bei Kursk 2024.

War letztere strategisch sinnvoll - unterm Strich?

Sehen wir uns Kursk an: Der ukrainische Generalstabschef stand vor der Entscheidung: Entweder wir schicken unsere frischen Verbände wieder in die Blutmühle des Donbass oder wir probieren mal etwas anderes. Also haben sie die Offensive auf Kursk versucht. Hätte es geklappt, dann wären sich hinterher alle einig gewesen: ein Lehrbeispiel der Kriegsgeschichte. Leider hat es nicht geklappt, und dann stellt sich die Frage: Was hat es gebracht, außer, dass Verbände abgenutzt wurden? Untersuchungen der Verluste zeigen: Auf beiden Seiten wurde Gerät im Verhältnis von 1 zu 1 zerstört, also gleich viel auf beiden Seiten. Das ist für die Ukraine eine schlechte Bilanz. Sie müssen die Russen im Verhältnis 1 zu 3 oder sogar 1 zu 4 abnutzen, um ihnen auf lange Sicht massiv schaden zu können.

Wie sieht es bei dem ukrainischen Vorstoß in Belgorod aus? Könnten sie da eine bessere Bilanz erreichen?

Zunächst mal kämpfen die Ukrainer hier auch in offenem Gelände und werden entsprechend stark von russischen Drohnen-Teams aufgeklärt und bekämpft. Das hat aber trotzdem einen wichtigen Nutzen: Wenn diese Drohnen-Teams nun in Belgorod gebraucht werden, können sie nicht in den Donbass zurückkehren.

Warum ist das so entscheidend?

Die Masse der Einheiten, mit denen die Russen gegen die ukrainische Offensive auf Kursk vorgingen, stammte nicht aus dem Donbass, mit einer wichtigen Ausnahme: Einige Elite-Einheiten, die mit First-Person-View-Drohnen arbeiten, wurden damals aus dem Donbass abgezogen und nach Kursk geschickt. Diese Einheiten waren dann enorm effektiv. Sie haben es möglich gemacht, die zentrale ukrainische Versorgungslinie zu unterbrechen, und damit hat sich das Blatt gegen die Ukraine gewendet. Genau diese Einheiten sieht man jetzt auf Videos vom Abwehrkampf gegen die Ukrainer in Belgorod. Wenn sie dort freigespielt würden und nicht mehr notwendig wären, könnten sie in Schwergewichtsräume im Donbass zurückverlegt werden, zum Beispiel nach Pokrowsk. Auch da würden diese Elite-Drohnentruppen sofort einen spürbaren Unterschied zugunsten der Russen machen.

Solange die Elitetruppen dort noch nicht wieder im Einsatz sind: Wie sieht es für die Ukrainer aus bei Pokrowsk? Zuletzt versuchten die Russen, südlich der Stadt vorzustoßen.

Auch dort ist das Gelände - wie in Belgorod - recht offen. Wenn die Russen aus einem gut getarnten Bereich in offenes Gelände vorfahren, werden sie von den Ukrainern sehr schnell erkannt und bekämpft. Hier hat die ukrainische Seite in der vergangenen Woche zwei spektakuläre Videos geteilt, die zeigen: Selbst wenn nur kleine Angriffstruppen vorstoßen, werden diese sofort von Drohnen bekämpft.

Das klingt, als sei die Situation für die Ukrainer dort im Moment gar nicht so schlecht.

Wenn Sie sich erinnern, wie sehr sich die Situation in Pokrowsk in den vergangenen Monaten so zugespitzt hatte, dass die Stadt drohte zu fallen, dann hat die Ukraine es im Vergleich dazu jetzt tatsächlich geschafft, die Front zu stabilisieren. Vor allem aber wohl deswegen, weil die Russen ihren Angriffsschwung dort jetzt anders vortragen. Sie lassen den Ort Pokrowsk quasi rechts liegen, vielleicht, um sich ihm später wieder zu widmen. Aber das momentane Ziel ist sichtbar der Vormarsch Richtung Westen, Richtung der nächsten Oblast-Grenze. Man will ins nächste Oblast, nach Dnipropetrowsk vormarschieren, man will zeigen: Wir haben da bereits den nächsten Fuß in der Tür. Das wäre ein Erfolg, der sich am 9. Mai gut präsentieren ließe. Auch in Saporischschja kommt es zu neuerlichen heftigen Kämpfen. Man kann durchaus einen Zusammenhang beider Bewegungen erkennen.

Dann hat der Vormarsch der Russen übers freie Feld und an Pokrowsk vorbei vor allem das Ziel, im Informationskrieg zu punkten? Weniger militärisch?

Bei Pokrowsk ist dieses Ziel erkennbar. Auch hier führte die russische Armee zunächst wieder die typische, klassische Zangenbewegung durch, also von zwei Richtungen kommend das Ziel zu umfassen. So haben wir das in der Vergangenheit immer wieder gesehen. So war es auch im Kampf um Pokrowsk. Doch diese Zangenbewegung ist momentan zum Erliegen gekommen. Die Russen können das Gelände nur halten gegen die heftige Abwehr der Ukrainer, die vor allem versuchen, die wichtige Eisenbahnlinie westlich der Stadt wieder freizukämpfen, die die Russen kontrollieren.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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