Sechs Monate lang war in Somalia die achtjährige Fatima verschwunden. Im vergangenen September hatte eine Verwandte sie abgeholt, um einen Onkel zu besuchen, berichtete die BBC. Lange war das Mädchen unauffindbar – bis die Familie in den sozialen Medien ein Video entdeckte, in dem Fatima beim Rezitieren des Korans zu sehen war.

Bei ihren Nachforschungen fand die Familie in der halbautonomen somalischen Region Puntland heraus, dass Fatima mit einem Erwachsenen namens Sheikh M. zusammenlebte. Er gab an, mit dem Mädchen verheiratet zu sein – mit Zustimmung des Vaters und mit Verweis auf islamische Lehren. Einer BBC-Recherche zufolge intervenierte die Polizei Ende März und musste dabei offenbar ein Zimmer aufbrechen, in dem sich der Mann mit dem Mädchen eingeschlossen hatte.

Seitdem ist die Timeline der somalischen Influencerin Muna, die auf TikTok über 300.000 Follower hat, voll mit Berichten über den Vorfall. „Diese schreckliche Geschichte ist völlig viral gegangen“, sagt sie. Es sei eine neue Debatte um das Thema Kinderhochzeit entstanden. „Sie ist acht – das ist völlig verrückt.“

Muna ist 26 Jahre alt, weder sie noch ihre gleichaltrigen Freundinnen in Somalias Hauptstadt Mogadischu sind verheiratet. Doch sie weiß, dass ihr Umfeld damit nicht repräsentativ ist. „Viele denken anders, besonders auf den Dörfern ist die Situation eine ganz andere.“ Hochzeiten im Alter von 14 Jahren, nach dem Einsetzen der ersten Periode, seien keine Seltenheit – aber mit acht? „Das sorgt hier für große Empörung“, sagt Muna am Telefon.

Somalia verfügt über keine eindeutig festgelegte gesetzliche Altersgrenze für Eheschließungen. Zwar legt das Familiengesetz von 1975 das Mindestalter auf 18 Jahre fest, erlaubt jedoch Ausnahmen. Die provisorische Verfassung von 2012 fordert die „freie Zustimmung beider Ehepartner“, definiert aber das dort vage erwähnte „Alter der Reife“ nicht eindeutig.

Im März 2024 verabschiedete das Parlament eine Verfassungsänderung, die das gesetzliche Erwachsenenalter von 18 auf 15 Jahre senkte, was international große Sorge auslöste. Es passt ins Bild, dass eine umfangreiche Ausweitung des Kinderschutzgesetzes vor zwei Jahren vom Parlament abgelehnt wurde.

Jedes zweite Mädchen wird vor der Volljährigkeit verheiratet

Laut somalischen Regierungsdaten werden rund 34 Prozent der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet, 16 Prozent vor dem 15. Lebensjahr. Unicef geht davon aus, dass beinahe jedes zweite Mädchen vor der Volljährigkeit verheiratet wird. Die Situation in dem notorisch instabilen Land am Horn von Afrika ist kein Einzelfall. West- und Zentralafrika sind mit 41 Prozent die Region mit dem weltweit höchsten Anteil.

Dabei ist weltweit ein Rückgang bei Kinderehen zu verzeichnen – mit den größten Fortschritten in den letzten zehn Jahren in Südasien. Dort ist das Risiko für Mädchen, im Kindesalter verheiratet zu werden, um mehr als ein Drittel gesunken – von fast 50 Prozent auf unter 30 Prozent.

Dagegen drohte im Irak zuletzt ein erschreckender Rückschritt. Dort wäre fast ein Gesetz in Kraft getreten, das die Verheiratung von Neunjährigen legalisiert. Nach massiven Protesten von Parlamentarierinnen und Menschenrechtsorganisationen wurde das Mindestalter bei der Verabschiedung im Februar letztlich auf 15 festgesetzt, „bei entsprechender Reife und physischer Kapazität“, so heißt es im Gesetz.

Geschichte verbreitete sich schnell im Netz

Was den Fall Fatima in Somalia besonders macht, ist die Aufmerksamkeit, die er erhalten hat. Dank sozialer Medien verbreitete sich die Geschichte schnell. „Ohne Facebook hätte niemand davon erfahren“, sagt die somalische Journalistin Hinda Abdi Mohamoud, 29, am Telefon.

Ein Fall wie Fatima sei nicht die Regel, Heiraten im Alter von 13 oder 14 gebe es aber oft. „Besonders die Männer halten das oft für völlig in Ordnung und argumentieren mit der Religion“, sagt sie. In ihrer Generation aber ändere sich diese Meinung, wenn auch eher langsam. „Viele Jüngere stellen diese Praxis infrage.“

Gesetze können auf dem Land kaum durchgesetzt werden

Dieser öffentliche Druck sei letztlich der einzige Weg. Der Kampf gegen Kinderehen erfordere langfristiges Engagement und vor allem den Mut, gesellschaftliche Normen infrage zu stellen. Denn selbst wenn die Gesetze in Somalia schärfer wären, gäbe es laut Mohamoud kaum eine Möglichkeit, sie in ländlichen Gegenden durchzusetzen: „Oft sind die Strukturen der Clans stärker als die des Staates“.

Ihr Team arbeitet an einer Dokumentation über gesellschaftliche Tabuthemen wie Kinderehen, häusliche Gewalt und finanzielle Abhängigkeit – mit dem Ziel, Frauen zu stärken.

Um die kleine Fatima kümmere sich nun eine Menschenrechtsorganisation, berichtet Journalistin Mohamoud. Nach ihren Informationen wurde der mutmaßliche Ehemann bislang nicht verhaftet. „Er ist sich auch keiner Schuld bewusst“, sagt sie. Es liegt einiges an Wut in ihrer Stimme.

Christian Putsch ist Afrika-Korrespondent. Er hat im Auftrag von WELT seit dem Jahr 2009 aus über 30 Ländern dieses geopolitisch zunehmend bedeutenden Kontinents berichtet.

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