Panzer, U-Boote, Fliegerabwehr- sowie Kampfdrohnen und Personal: Der Bundeswehr mangelt es an allem. Hans-Peter Bartels, SPD-Politiker, Ex-Wehrbeauftragter und Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, erklärt, wie Deutschland für den Ernstfall wieder verteidigungsfähig wird. Und wie schnell. Im Interview mit ntv.de fordert er die Wiedereinführung der Wehrpflicht, um die Truppenstärke zu erhöhen.
ntv.de: Herr Bartels, wie wird Deutschland kriegstüchtig?
Hans-Peter Bartels: Durch Entschlossenheit und Tempo! Deutschland braucht eine größere, voll und modern bewaffnete Bundeswehr und das in einer für die Bündnisverteidigung wirklich passenden Struktur. Die, ich sage mal, "Wiederbewaffnung" hätte schon 2014 nach der russischen Annexion der Krim beginnen müssen, aber da ging das Schrumpfen erst mal einfach weiter. Stand heute ist die Bundeswehr immer noch viel zu klein und nicht konsequent auf die neue Hauptaufgabe der kollektiven Verteidigung Europas eingestellt.
Und wie können wir die Bundeswehr besser ausrichten?
Wir brauchen einen Verteidigungshaushalt, der alles jetzt Notwendige verlässlich und planbar finanziert. Genau das hat sich die neue Koalition vorgenommen und mit der Grundgesetzänderung noch im alten Bundestag auch erreicht, ein Riesenschritt nach vorn! Das alte Sonderprogramm über 100 Milliarden Euro war eine Anschubfinanzierung, gut und notwendig, aber bei Weitem nicht ausreichend.
Wie viel braucht es?
Verteidigung wird in Zukunft wieder direkt aus dem Verteidigungshaushalt finanziert. Bisher war der bei 50 Milliarden Euro eingefroren, weil es ja das Sondervermögen gab. Mit der neuen Grundgesetzbestimmung, die quasi beliebig hohe Kredite für die Verteidigung zulässt, wird nun alles, was nötig ist, auch möglich gemacht. Deshalb ist es eigentlich egal, ob eine Quote von zum Beispiel 3,5 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung im Koalitionsvertrag festgeschrieben wird oder ob Friedrich Merz einfach sagt: "Whatever it takes". Hauptsache Tempo! Und dann geht es natürlich nicht nur darum, mehr Waffen zu kaufen, wir brauchen auch mehr Soldaten.
Wie viele haben wir und wie viele brauchen wir?
Seit Jahren stagniert die Ist-Stärke der Bundeswehr bei 180.000 Soldatinnen und Soldaten. Das Soll liegt lange schon bei 203.000. Als reine Freiwilligenarmee, die ihr Personal am allgemeinen Arbeitsmarkt rekrutiert, ist nicht mal das zu schaffen. Tatsächlich aber muss die Truppe aufwachsen auf etwa 250.000 Soldaten. Diese Zahl würde ich übrigens gerne im Koalitionsvertrag sehen. Bisher steht dazu nichts drin.
Woran machen Sie diese Zahl fest?
Die Größenordnung von 250.000 Soldaten ergibt sich aus den deutschen Verpflichtungen in der Nato. Wie unsere Bündnispartner haben wir die aktuellen Pläne zur Verteidigung Europas Fähigkeitsforderungen akzeptiert. Die werden im Juni auf dem Nato-Gipfel in Den Haag formal beschlossen. Diesen Verpflichtungen müssen wir nachkommen. Nach allem, was schon durchgedrungen ist, muss die Bundeswehr um ein Drittel größer werden. Das ist viel. Aber wir befinden uns in einer Weltkrise. Und ob wir uns auf unseren größten Bündnispartner, die USA, noch hundertprozentig verlassen können, steht zumindest infrage.
Wie schaffen wir das?
Es geht um den Aufwuchs der aktiven Truppe, aber auch darum, die Reserve schnell und massiv zu vergrößern. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, rechnet mit einem Bedarf von 260.000 Soldaten in der Reserve. Die gibt es derzeit nicht. Heute kämen wir maximal vielleicht auf 60.000 Reservisten. Für manchen mag sich das nach gewaltigen Herausforderungen anhören, aber in der Zeit des Kalten Krieges hatte die Bundeswehr 495.000 aktive Soldaten. Mobilgemacht wären es 1,3 Millionen gewesen - und das war nur die alte Bundesrepublik. Heute leben mehr als 80 Millionen Menschen im wiedervereinten Deutschland. Der Wohlstand ist weiter gewachsen. Und da halten wir es für ein Ding der Unmöglichkeit, die Zahl unserer aktiven Soldaten von 180.000 auf 250.000 zu erhöhen? Das wird ja wohl zu schaffen sein!
Wo sollten wir zuerst ansetzen?
Das Heer ist im Moment die Hauptbaustelle der Bundeswehr, jahrelang kaputtgespart, ausgedünnt, strukturell amputiert. Wenn wir die Nato-Planungen ernst nehmen, müssen wir unsere Landstreitkräfte verdoppeln. Das geht nicht ohne Wehrpflicht.
Aber reicht das?
Die Grundlage für den notwendigen Aufwuchs der Bundeswehr ist die Wehrpflicht. Sie steht im Grundgesetz, 2011 wurde sie ausgesetzt, 2025 müssen wir sie wieder einsetzen. Dafür reicht im Bundestag eine einfache Mehrheit. Jetzt geht es nicht um genderpolitische oder gesellschaftspolitische Fragen, nicht um Frauen-Wehrpflicht oder ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Es geht um die Verteidigung von Frieden und Freiheit, nichts sonst. Im Grundgesetz steht auch: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Aber da steht nicht: "... falls sich genug Leute finden, die gerade Lust dazu haben." Die Wehrpflicht sichert unsere Verteidigungsfähigkeit, wenn es ernst wird, deshalb steht sie in unserer Verfassung. Und jetzt ist es wieder ernst. Im Koalitionsvertrag sollte das so stehen.
Warum geht es nicht auf freiwilliger Basis?
Man kann ein Wehrpflicht-Modell wählen, in dem erst einmal alle erfasst und auf Tauglichkeit gemustert werden; anschließend kann man die Tauglichen fragen, ob sie auch kommen wollen. Von den Tauglichen und Willigen zieht die Bundeswehr dann nach Eignung und Bedarf so viele ein, wie sie braucht - vorausgesetzt, die Zahl derer, die gerne Dienst leisten wollen, reicht aus. Wenn nicht, greift die Pflicht. Das wäre das SPD-Modell von 2011, das jetzt als sogenanntes schwedisches Modell reimportiert wird. Damals hat, was viele wohl nicht mehr wissen, die SPD der Aussetzung der Wehrpflicht mit der Mehrheit von CDU/CSU und FDP ausdrücklich nicht zugestimmt. Wir hatten uns damals für ein eigenes Modell entschieden: die eben beschriebene Auswahlwehrpflicht. Zahlenmäßig wäre das wohl aufgegangen.
Warum?
Neben den W6ern, die nur sechs Monate Grundwehrdienst zu leisten hatten, gab es 2011 noch rund 40.000 Wehrdienstleistende, die sich entschieden hatten, länger zu bleiben, als sogenannte FWDLer oder als kurzdienende Zeitsoldaten. Die haben auf Grundlage der Wehrpflicht freiwillig mehr geleistet, als sie mussten. Wenn wir diese Größenordnung von 40.000 jedes Jahr heute erreichen würden, wären wir fein raus. Das Prinzip "Freiwilligkeit zuerst" kann aufgehen. Aber dafür müssen erst einmal alle verpflichtend angesprochen werden. Derzeit machen sich viele junge Menschen keine Gedanken über die Bundeswehr.
Wie steht es um die Verteidigungsbereitschaft in Deutschland?
Eine große Mehrheit in der deutschen Gesellschaft hat den Schuss gehört. Zum Beispiel mehr Geld für die Verteidigung auszugeben, findet viel Zuspruch. Weit mehr als die Hälfte unserer Mitbürger ist auch für die Wehrpflicht. Deutschland wieder wehrhaft zu machen, ist absolut populär.
Und wie können junge Menschen angesprochen werden?
Nach dem Modell, das Verteidigungsminister Boris Pistorius vorschwebt, wird ein Fragebogen an alle 18-Jährigen verschickt. Die jungen Männer müssen antworten, die Frauen können. Nach Auswertung der Rücksendungen soll dann ein Teil amtlich gemustert werden. Im früheren SPD-Modell würden alle Wehrpflichtigen gemustert. Der medizinische Teil könnte als Pflichtuntersuchung für jeden 18-jährigen Mann, als eine Art U18, beim Hausarzt erfolgen. Das Ergebnis geht an die Bundeswehr. So müsste keine teure Organisation in der Wehrverwaltung neu aufgebaut werden. Die Hausärzte bekämen eine zusätzliche Kostenstelle zum Abrechnen dieser einen Leistung, die vom Bund bezahlt wird. Und nach der gesundheitlichen Musterung würde abgefragt, ob die Person auch kommen wollen würde. In der aktuellen Weltlage erkennen doch viele die Notwendigkeit. Ich könnte mir vorstellen, dieses Konzept geht auf.
Und wenn nicht?
Wenn nicht, greift die Pflicht. In Dänemark zum Beispiel gibt es für den Fall, dass sich nicht genug Freiwillige zum Dienst melden, ein Losverfahren. Wenn Wehrgerechtigkeit zum Thema wird, ist Losen in einer gewissen Weise durchaus gerecht. Gut wäre, wenn die Wehrdienstleistenden in der Truppe dann auch die Ausstattung vorfinden, die zu einer modernen Armee gehört. Die materielle Mangellage ist allerdings bis heute der Fluch der Bundeswehr.
Was fehlt?
Munition, Ersatzteile, Munition! Vollausstattung, Digitalisierung, mehr Kasernen! Wir brauchen deutlich mehr von allem. Die Reform von 2011 hat der Bundeswehr das Rückgrat gebrochen. Wenn auf dem Papier sechs Panzerbataillone stehen, aber es gibt nur Kampfpanzer für vier, dann geht das in Richtung Selbstabschreckung. Dieses sogenannte "dynamische Verfügbarkeitsmanagement" muss ein Ende haben! Hat es aber noch nicht. Wie kommt man auf die Idee, genau 19 Flugabwehrkanonenpanzer zu bestellen, mit einer Option auf 30 weitere? Warum nicht sofort 100 Skyranger kaufen? Die Heeresflugabwehr, insbesondere gegen Drohnen, ist ein absolut vordringliches Thema. Wir müssen schneller werden im Bestellen und Nachbestellen, aber auch in der Produktion.
Wie?
Die Industrie muss ihre Kapazitäten hochfahren. In der Autoindustrie werden bereits Betriebe Richtung Rüstung umgewidmet. Für die nächste Bundesregierung wird es wichtig sein, nicht nur zu schauen, dass die Zusatz-Milliarden abfließen, sondern auch, wie zügig Ausrüstung bei der Truppe ankommt.
Wie schnell kann Deutschland kriegstüchtig werden?
So schnell wie möglich! Der Kreml wartet nicht bis 2029 oder bis wir in Moskau Bescheid sagen, dass wir jetzt voll verteidigungsfähig sind. Die hybriden Angriffe laufen schon.
Viele Kasernen der Bundeswehr sind marode. Und bekommen wir das Problem wieder hin?
Wir müssen pragmatisch sein. In meiner Zeit als Wehrbeauftragter wurde einmal eine britische Kaserne an die Bundeswehr abgegeben, mit einer Truppenküche, die war supermodern, aber braun gefliest. Das bedeutete: Stilllegen und weiße Fliesen rein - so war es Vorschrift. Kriegstüchtig werden nach Schema F wird aber nicht gehen. Wir brauchen zur Not auch mal provisorische Lösungen für den Übergang. Und nicht auf abschließende Bedarfsforderungen warten, sondern mit Umbau und Neubau von Kasernen schon anfangen! Die Bundeswehrverwaltung stellt sich gerade mit Macht auf die neue Zeit ein, das ist gut.
Warum sind Sie so zuversichtlich?
Für die neue Regierung soll Verteidigung oberste Priorität haben. Das hätte die Ampel schon tun können: Nach der starken Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz hätte man zur Zeitenwende-Regierung werden müssen. Das ist nicht passiert. Stattdessen blieb Frau Lambrecht Verteidigungsministerin, vertane Zeit.
Zum Thema Ministeramt: Es ist noch nicht klar, wer das Amt des Verteidigungsministers bekommt. Wäre es in dieser Lage nicht klüger, wenn Pistorius weitermacht?
Boris Pistorius hat genau die Statur, die ein Verteidigungsminister braucht. Er spricht die Probleme an und macht einen guten Job. Auch deshalb ist Pistorius der beliebteste Politiker Deutschlands. Das Letzte, was die Bundeswehr jetzt braucht, ist jemand, der sich noch einmal völlig neu einarbeiten muss.
Mit Hans-Peter Bartels sprach Rebecca Wegmann
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