In dieser Woche wurde die neue Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2024 vorgestellt. Die Zahlen dienen oft als Grundlage für Debatten: Wie sicher ist Deutschland? Dabei sind die Daten stark verzerrt und lückenhaft. Bernd-Dieter Meier leitet das Kriminalwissenschaftliche Institut an der Universität Hannover und erklärt im Interview, was die Kriminalstatistik leisten kann, wo ihre Schwachpunkte liegen - und welche Forschungsberichte die Datenlücken füllen könnten.

ntv.de: Laut der neuen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2024 hat die Zahl der Gewaltdelikte das dritte Jahr in Folge zugenommen. Heißt das, Deutschland ist in den letzten Jahren irgendwie gefährlicher geworden - oder brutaler?

Bernd-Dieter Meier: So allgemein kann man das auf keinen Fall sagen, das geben die Zahlen nicht her. Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist in erster Linie eine Statistik darüber, was die Polizei tut - nämlich Strafanzeigen entgegennehmen, bearbeiten und an die Justiz weiterleiten. Die Ergebnisse hängen stark davon ab, welche Verbrechen Straftaten überhaupt zur Anzeige gebracht werden. Autodiebstähle oder Wohnungseinbrüche etwa werden fast immer angezeigt. In solchen Fällen geht man allein schon deshalb zur Polizei, weil man eine Vorgangsnummer braucht, um die Versicherungsleistungen geltend zu machen.

Wie ist das bei anderen Straftaten, zum Beispiel Gewaltdelikten?

Die Frage, ob jemand zur Polizei geht oder nicht, hängt stark davon ab, wie die betroffene Person die Straftat empfindet. Da gibt es leichtere Delikte, die wir alle kennen, Beleidigungen zum Beispiel. Da geht man vielleicht mit einem Lächeln drüber weg. Und es gibt schwere Delikte, die öfter zur Anzeige gebracht werden - allerdings auch nur dann, wenn der oder die Betroffene das für eine vertretbare Lösung hält.

Viele Verbrechen werden beispielsweise nie gemeldet, weil für die Betroffenen der Schutz von Familienangehörigen im Vordergrund steht. Bei Straftaten, in denen Täter mit Migrationshintergrund im Mittelpunkt stehen, könnten wiederum politische Einstellungen eine Rolle spielen, warum diese öfter zur Anzeige gebracht werden. Letztlich ist alles, was in der Polizeistatistik ankommt, schon durch einen Filter gelaufen und deshalb erst mal mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten.

Sie sprachen eben einen wichtigen Punkt an: Gewaltverbrechen, die von Menschen mit Migrationshintergrund verübt wurden, versetzen oft die ganze Republik in Aufruhr. Da reichen offenbar schon einzelne Ereignisse aus, um eine erbitterte Debatte über den richtigen Umgang mit den Straftätern auszulösen. Im vergangenen Bundestagswahlkampf haben Sie deshalb - zusammen mit vielen anderen Kolleginnen und Kollegen - eine Stellungnahme veröffentlicht, in der Sie eine evidenzbasierte, rationale Kriminalpolitik fordern. Inwiefern könnte die PKS hierfür eine Grundlage sein?

Tatsächlich sind die Meinungen und Einschätzungen zum Thema Sicherheit immer stark davon geprägt, was gerade öffentlich diskutiert wird. Problematisch wird es dann, wenn durch gezieltes Agenda-Setting versucht wird, die Ängste der Bevölkerung zu steuern. In solchen Fällen glaube ich, wäre es tatsächlich besser, sich an den verfügbaren Daten zu orientieren als an den Aussagen einzelner Akteure. Die objektive Kriminalitätsbelastung und die subjektive Vorstellung über Kriminalität können weit auseinanderfallen. Und bei allem Negativen, was man über die Polizeistatistik sagen kann, muss man ja auch festhalten, dass sie weitaus konsistenter ist als die Berichterstattung über Kriminalität und weniger starke Schwankungen aufweist.

Aber gewisse Trends sind doch recht auffällig, oder nicht?

Die PKS ist ein durchaus wertvoller Indikator, wenn man die Entwicklungen in den einzelnen Tatbestandskategorien über Jahre hinweg vergleicht. Man muss das aber natürlich immer auch vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungen betrachten.

Das klassische Beispiel sind die Jahre 2015/2016, in denen der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen deutlich angestiegen ist. Das ist aber nicht weiter verwunderlich - schließlich sind damals sehr viele Menschen zu uns gekommen.

Auch in der Corona-Zeit gab es einige dramatische Veränderungen, die sich in der Kriminalstatistik niederschlagen. Es wurden deutlich weniger Straftaten im öffentlichen Raum verzeichnet. Das liegt daran, dass die Menschen viel mehr Zeit zu Hause verbracht und ihre Konflikte dort ausgetragen haben. Das lässt sich statistisch aber nur schwer erfassen.

Interessant ist auch, dass die Zahl der insgesamt erfassten Straftaten zuletzt leicht rückläufig war. Das wiederum wird aber vor allem auf die Teillegalisierung von Cannabis zurückgeführt.

Genau, solche Gesetzesänderungen muss man als wichtiges Hintergrundwissen im Auge behalten. Ansonsten könnte man sinkende Fallzahlen auch darauf zurückführen, dass die Polizei offenbar gute Arbeit leistet - oder dass die Gesellschaft generell erfolgreich darauf hinarbeitet, Straftaten zu verhindern. Bestimmte Trends könnten auch auf eine neue Schwerpunktsetzung in der polizeilichen Arbeit hindeuten. Neue Ermittlungsmethoden könnten eine Rolle spielen. Und, und, und…

Noch mal kurz zurück zur Corona-Pandemie: Die Einschränkungen von damals werden heute herangezogen, um gestiegene Kriminalitätsraten unter Kindern und Jugendlichen zu erklären. Finden Sie das schlüssig?

Das sind natürlich alles nur Plausibilitätserwägungen, die man im Zusammenhang mit der PKS anstellt. Wir sehen, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter den Tatverdächtigen gestiegen ist. Jetzt muss man sich genauer anschauen, woran das liegt. Was hat sich bei den Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren getan? Wie hat sich ihr Umfeld verändert?

Dass die Corona-Nachwirkungen etwas damit zu tun haben, kann man - zumindest für eine gewisse Zeit - sicherlich für plausibel halten. Mindestens ebenso plausibel finde ich aber, dass der Social-Media-Konsum eine Rolle spielen könnte. Wir wissen aus Umfragen, dass gerade Kinder und Jugendliche die sozialen Medien sehr, sehr intensiv nutzen. Das könnte zu Veränderungen im Sozialverhalten führen und auch dazu, dass vermehrt Straftaten begangen werden.

Aber das sind alles Punkte, die Sie mithilfe der Kriminalstatistik niemals herauskriegen können. Das bekommt man nur heraus, wenn man sich mit den einzelnen Fällen genauer befasst und die Phänomene systematisch untersucht, zum Beispiel mit Befragungen, Beobachtungen oder Auswertungen von Verfahrensakten.

Wir halten fest: Kriminalität ist ein komplexes Phänomen und lässt sich durch die PKS nur unzureichend abbilden. Gibt es denn andere Statistiken, die das Bild sinnvoll ergänzen könnten?

Ja, auf jeden Fall. Über die Dunkelfeld-Problematik hatten wir schon gesprochen: Es werden Straftaten begangen, die der Polizei niemals bekannt werden. Es gibt aber Untersuchungen - unter anderem vom Bundeskriminalamt und von manchen Landeskriminalämtern - in denen versucht wird, dieses Dunkelfeld aufzuhellen.

Dazu werden Menschen ab 16 Jahren in einer repräsentativen Befragung gefragt, ob sie im vorangegangenen Jahr Kriminalitätserfahrungen gemacht haben und ob sie deswegen Anzeige erstattet haben. Daher wissen wir beispielsweise, dass die Anzeigenquote bei bestimmten Delikten wie Kfz-Diebstahl sehr hoch ist. Sexualdelikte hingegen werden eher selten zur Anzeige gebracht.

Das heißt aber auch: Nur weil sich in der PKS, also bei den angezeigten Straftaten, Ausschläge beobachten lassen, ist damit nicht gesagt, dass tatsächlich mehr Straftaten begangen wurden. Zunächst einmal heißt das nur, dass mehr Anzeigen erstattet wurden.

Und ob tatsächlich ein Verbrechen verübt wurde, bleibt auch noch zu klären.

Ganz genau. Die Polizei hat nur die Aufgabe, Straftaten aufzuklären. Und aus polizeilicher Sicht ist ein Fall dann aufgeklärt, wenn festgestellt werden konnte, welche Person den angezeigten Sachverhalt mutmaßlich zu verantworten hat. Als Nächstes muss die Justiz aber prüfen, ob dieser Sachverhalt auch nachgewiesen werden kann. Wenn das nicht der Fall ist, gilt die Unschuldsvermutung.

Deshalb lohnt sich immer auch ein Blick in die Strafverfolgungsstatistik. Wie schlagen sich Veränderungen in der Kriminalitätsbelastung, die die Polizei wahrnimmt, auf der Ebene der Justiz nieder? Da wird man feststellen, dass die Ausschläge deutlich geringer sind.

Ohne Tatverdächtige gibt es aber kein Verfahren. Also auch diese Statistik ist lückenhaft. Wo kann ich mich sonst noch über die Sicherheitslage in Deutschland informieren?

Es gibt noch die sogenannten periodischen Sicherheitsberichte des Bundeskriminalamts, die bisher drei Mal erschienen sind und zwar in den Jahren 2001, 2006 und 2021. Das ist der Versuch, unser gesamtes Wissen aus allen Institutionen - also Polizei, Justiz und empirischer Forschung - zusammenzutragen und zu einem Bild zu formen. Wie ist die Sicherheitslage wirklich in Deutschland? Und das ist, glaube ich, ein ertragreicher und guter Weg, wenn man möglichst viele Datenquellen auswerten möchte. Die Polizeistatistik allein bildet jedenfalls nur einen kleinen Teil der Wahrheit ab.

Trotzdem erscheint die PKS jedes Jahr und nimmt in der öffentlichen Diskussion immer viel Raum ein. Ist das sinnvoll oder überwiegt die Gefahr, dass die Zahlen missbraucht werden, um bestimmte Narrative zu verbreiten?

Also, ich bin kein Freund von Verschwörungstheorien und würde den Beteiligten auf gar keinen Fall böse Absichten unterstellen. Gerade auf den oberen politischen Ebenen sind sich, glaube ich, alle Akteure sehr wohl bewusst, welche Probleme die PKS mit sich bringt.

Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass man mit Zahlen unterschiedliche Eindrücke erzeugen kann - je nachdem, welchen Wert man in den Vordergrund rückt. Wenn wir uns zum Beispiel die Fallzahlen bei Gewaltdelikten unter Kindern und Jugendlichen angucken: Da kommt es total darauf an, ob Sie die absoluten oder die relativen Werte zugrunde legen.

Es ist ja so, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen schwankt, aber insgesamt zurückgeht. Das heißt, die absoluten Fallzahlen sagen womöglich etwas ganz anderes aus als die relativen Werte im Bezug zur Größe der Bevölkerungsgruppe. Und es gibt, wie gesagt, eine ganze Reihe von anderen Faktoren, die mitberücksichtigt werden müssen. Das heißt: Ja, die Statistik ist in der Art, in der die Zahlen präsentiert werden, durchaus manipulationsanfällig - ohne, dass ich damit sagen will, dass auch manipuliert wird.

Mit Bernd-Dieter Meier sprach Laura Stresing, Grafiken von Martin Morcinek

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