Für die Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Anfang April nach Armenien und Aserbaidschan hätte man sich kaum einen besseren Zeitpunkt vorstellen können. Kurz zuvor hatten sich die beiden Länder nach 15 aufreibenden Gesprächsrunden auf den Text eines Friedensabkommens geeinigt. Nach zwei Kriegen und Vertreibungen schien eine Normalisierung zwischen den beiden Ländern in greifbare Nähe zu rücken.
Der US-Außenminister Marco Rubio sprach von einer „historischen“ Ankündigung der Außenministerien der beiden Länder. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sprach von einem „entscheidenden Schritt“ zu einem dauerhaften Frieden. Steinmeier sagte in der armenischen Hauptstadt Eriwan, es gebe „vielleicht zum ersten Mal die Chance“ auf Frieden und Stabilität. In Baku sprach er vom „entscheidenden Moment“, um eine Einigung zu erzielen.
Doch ob sie zustande kommt, hängt am Ende nicht von Chancen oder vermeintlichen historischen Notwendigkeiten ab – sondern von den Interessen der ehemaligen Kriegsparteien. Vieles weist darauf hin, dass eine Friedenslösung im Südkaukasus weiter entfernt sein könnte, als es den Anschein hat. Während Armenien immer neue Zugeständnisse macht, formuliert Baku immer neue Forderungen.
An dem Friedensschluss ist vor allem Eriwan interessiert. Militärisch kann sich das Land gegen das rohstoffreiche und mit russischem, türkischem und israelischem Kriegsgerät vorzüglich ausgestattete Aserbaidschan anders als im Krieg Anfang der 1990er-Jahre nicht mehr behaupten. Daran dürfte in Eriwan niemand mehr Zweifel haben.
In zwei Militäroperationen 2020 und schließlich 2023 holte sich Baku die mehr als 30 Jahre lang von Armenien besetzte Provinz Bergkarabach zurück und vertrieb etwa 100.000 dort zuvor beheimatete Armenier. Seit bald zwei Jahren hadert die armenische Gesellschaft mit dieser neuen Realität.
Dabei braucht Armenien dringend die Normalisierung mit Aserbaidschan und Bakus großem Unterstützer Türkei, um die politische und wirtschaftliche Isolation zu durchbrechen. Das Land hat bislang nur mit seinen schwierigen Partnern Georgien im Norden und Iran im Süden eine offene Grenze – zur Türkei und Aserbaidschan gibt es weder Grenzübergänge noch Warenverkehr. Die Öffnung ist auch für den Westkurs des Landes Richtung EU essenziell, sowie für die Abkehr von der alten Schutzmacht Russland.
Moskau konnte die Lage nach dem ersten Vormarsch Aserbaidschans 2020 trotz des Einsatzes von Friedenstruppen nicht stabilisieren und sah 2023 schließlich untätig zu, wie Aserbaidschan Bergkarabach vollends zurückeroberte. Im vergangenen Jahr hat Armenien die Mitgliedschaft in der Moskau-geführten Militärallianz OVKS ausgesetzt.
Der Mann, der Armeniens schmerzhaft-pragmatischen Kurs verantwortet, ist Premier Nikol Paschinjan. Die Opposition sieht in ihm einen Verräter. Die jüngsten Zugeständnisse im Entwurf des Friedensvertrages würden den Rückzug einer EU-Beobachtungsmission von der Grenze zu Aserbaidschan bedeuten sowie die Rücknahme einer aussichtsreichen Klage gegen Aserbaidschan vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen der ethnischen Säuberung von Karabach-Armeniern.
Hinzu kommt: Baku hat acht ehemalige Politiker der nun aufgelösten selbsterklärten Republik Arzach als Separatisten zu Haftstrafen verurteilt und, so der Vorwurf, Geständnisse unter Folter erzwungen. Baku hält seit dem Krieg von 2020 weiterhin mehr als 200 Quadratkilometer völkerrechtlich armenischen Gebiets in Grenznähe besetzt.
Autokrat Alijew kritisiert westliche Medien
Die beispiellose, zu harten innenpolitischen Spannungen führende Kompromissbereitschaft Eriwans führte also nicht zu gutem Willen auf Bakus Seite. Der aserbaidschanische Autokrat ist nicht in Eile, den Friedensvertrag zu unterschreiben. Spannungen mit Armenien sind für den regierenden Alijew-Clan eine innenpolitische Ressource.
Am Tag der Ankündigung des Friedensvertrags-Entwurfs sagte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, was die Armenier behaupteten, habe für ihn „Null Bedeutung“. Armenien bereite sich für einen neuen Krieg vor, mit französischer Hilfe. Westliche Medien, darunter die WELT-Partnerpublikation „Politico“, hätten sich gegen ihn verschworen. Solche Tiraden reserviert Alijew für das einheimische Publikum.
Wenn hohe westliche Gäste wie Steinmeier kommen, wandelt sich Alijew zu einer Friedenstaube. In der palastartigen Sommerresidenz des Autokraten war plötzlich davon die Rede, dass „heute die Positionen Aserbaidschans und Armeniens recht nah beieinander seien“. Mehr will Steinmeier von seinem „lieben Kollegen“ Alijew, der ihm vom „sehr beeindruckenden“ Friedensprozess berichtete, auch nicht hören, genau wie andere europäische Politiker. Aserbaidschan ist zu einem aufstrebenden Gaslieferanten für die EU avanciert, deutsche und europäische Unternehmen buhlen um die Gunst Alijews.
Da gerät leicht aus dem Blick, dass Baku immer neue Forderungen an Eriwan formuliert. Nun soll aus Armeniens Konstitution ein Hinweis auf die Unabhängigkeitserklärung der damaligen Sowjetrepublik Armenien verschwinden, die damals die „Wiedervereinigung“ der aserbaidschanischen Provinz Bergkarabach und Armeniens anstrebte.
Alijew wertet das als einen Angriff auf Aserbaidschans territoriale Integrität. Baku besteht weiterhin auf einen von Armenien nicht kontrollierten Sangesur-Korridor zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan an der türkischen Grenze. Zu großen Kritikern dieses Vorhabens gehört neben Eriwan auch Teheran. Darüber hinaus fordert Baku die formelle Auflösung der OSZE-Minsk-Gruppe, einer längst von Aserbaidschan aufgegebenen Plattform zur Vermittlung zwischen den beiden Ländern.
Zumindest für ein Referendum zur Verfassungsänderung scheint Eriwan bereit zu sein. Dieses dürfte aber erst nach den Parlamentswahlen 2026 stattfinden – vorausgesetzt, der innenpolitisch umkämpfte Pragmatiker Paschinjan bleibt Premier.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.
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