Obwohl das deutsche Gesundheitssystem zu den teuersten der Welt gehört, müssen sich die Deutschen in den kommenden Jahren auf eine drastische Unterversorgung einstellen. So lautet das Fazit einer Gruppe von Gesundheitsexperten, Gesundheitsökonomen, Klinikdirektoren sowie des vormaligen Chefs des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Jürgen Windeler. Der wohl wichtigste Punkt in dem 47-seitigen Analysepapier: Die Zahl der Ärzte habe sich seit 1990 zwar fast verdoppelt, von 238.000 auf 429.000. Aber was wie eine gute Nachricht klingt, komme tatsächlich mit einer unschönen Einschränkung daher. Trotz der vielen Mediziner habe sich beim Bestand der Hausärzte wenig getan. Er liege kaum höher als vor 30 Jahren. Auch seien die Aussichten trüb, ein Drittel der selbstständigen Allgemeinmediziner gehe binnen zehn Jahren in Rente.
Krasser Mangel bei gleichzeitigem Überfluss – das trifft offenbar auf ziemlich alle Bereiche der deutschen Gesundheitsversorgung zu. In ihrem „Short Paper“ errechnen die acht Autoren um den ehemaligen Stellvertretenden Vorsitzenden des Sachverständigenrats Gesundheit, Matthias Schrappe, eine fatale Gesamtbilanz des Gesundheitssystems. „Deutschland schafft es, aus einem systemischen Überfluss, was die Zahl von Ärzten und Pflegekräften pro Einwohner betrifft, einen nahezu flächendeckend spürbaren Mangel zu organisieren“, fasst Mitautor Franz Knieps gegenüber WELT zusammen. Knieps ist Chef des BKK-Dachverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK). Für ihn ist offensichtlich, wie das Gesundheitssystem vor die Wand fahren konnte. „Das deutsche Gesundheitsrecht schützt primär Institutionen und berücksichtigt wenig die Nöte der Betroffenen“, so Knieps. Obendrein sei das System inzwischen so komplex, dass es niemand mehr richtig verstehe.
Vor allem aber ist es kostspielig. Trotz der massiven Beitragssätze für die Krankenkassen sei die Versorgung vieler Patienten gefährdet, so Autor Matthias Schrappe, „besonders in ländlichen Regionen, bei Pflegebedürftigen und chronisch Kranken.“
In dem Papier der Experten wird es konkret: 77 Prozent der Bevölkerung berichteten von langen Wartezeiten, 43 Prozent fänden kaum einen Arzt, der sie aufnimmt.Bislang sei das Problem der Unterversorgung nur in Teilbereichen in der öffentlichen Diskussion aufgetaucht, etwa bei fehlenden Fieberzäpfchen für Kinder, sagt Schrappe, „aber in unserer Analyse wird klar, es handelt sich um ein umfassendes Problem des gesamten Gesundheitssystems“.
Am finstersten sieht es für die acht Experten bei der Pflege aus. Derzeit versorgen 1,7 Millionen Pflegekräfte 3,1 Millionen Bedürftige, unterstützt von 7,5 Millionen Angehörigen. Für knapp 20 Prozent der Pflegestellen sind keine Bewerber zu finden. Nach den Zahlen im „Short-Paper“ ist 2049 mit 2,15 Millionen Pflegebedürftigen zu rechnen. Dann mit einem Pflegedefizit von 45 Prozent.
Besonders bemerkbar macht sich der Notstand in Ostdeutschland. Dort sind um die 16 Prozent der Versicherten pflegebedürftig. In München sieht man mit 3,5 Prozent die Lage vergleichsweise entspannt.
Seit Mitte vergangenen Jahres sind im Schnitt 2.350 Euro für einen Pflegeheimplatz fällig. Dennoch kümmert die Branche antriebslos vor sich hin – aus finanziellen Gründen? Knapp 1100 Anbieter sind seit 2023 ausgestiegen. Das bekamen indirekt auch die Krankenhäuser zu spüren, als Ausweichquartiere und Notlösung für Pflegebedürftige. Ein Vorgang, der die jüngst in Gang gesetzte Krankenhausreform in einem anderen Licht erscheinen lässt. Sollte laut Reformplan ein guter Teil der Krankenhäuser dichtmachen, würde das nicht nur für Pflegefall-Angehörige Anfahrtszeiten von 30 bis 40 Minuten bedeuten. Es werde auch mehr und mehr zu einer „Risikoselektion“ kommen, befürchten die Experten: Die Entscheidung darüber, ob Kranke oder Verletzte im eigenen Bett bleiben müssen, wenn es eng wird im Krankenhaus. Es sei absehbar, schreiben die Experten, dass dies vor allem multimorbide und chronische Patienten träfe. Die Krankenhäuser sähen in ihnen ein finanzielles Risiko.
Viel Geld, wenig Leistung
Viel Geld, wenig Leistung, so in etwa lautet das Resümee der Analysten zu deutschen Krankenhäusern. In einer aktuellen internationalen Qualitätsstudie landete das deutsche Krankenhaussystem im mittleren bis unteren Bereich. Das gleiche gilt für die pharmazeutische Versorgung. Kein anderes Land in der EU gibt so viel Geld für Arzneimittel aus, knapp 50 Milliarden Euro jährlich zulasten des Gesundheitssystems, mit enormer Beschleunigung. Treiber sind vor allem teure Krebsarzneien mit oft fragwürdigem Zusatznutzen. Aber auch Spezial-Medikamente für immer kleinere Patientengruppen machen sich bemerkbar. Die Folge: Rund 0,1 Prozent der Rezepte verursachen knapp 13 Prozent der Kosten.
Die Autoren machen strukturelle Probleme verantwortlich: Das duale System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung begünstige Privatpatienten und schaffe Ungleichheit. Praxen seien überlastet, die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Fachärzten und Pflegekräften funktioniere nicht mehr. Die Experten fordern Reformen: Die Vernetzung aller Beteiligten, eine stärkere Rolle der Hausärzte, mehr Prävention und sie halten eine politisch heikle Idee in die Höhe: das gesetzlich/private Versicherungssystem durch eine Einheits-Bürgerversicherung zu ersetzen.
„Geld ist insgesamt genug im System, wir haben einen Mangel an Effizienz“, bilanziert Mitautor Thomas Voshaar, Chef des Verbandes Pneumologischer Kliniken, gegenüber WELT. Abgesehen davon sieht Voshaar auch eine „asymmetrische Entwicklung im Verhältnis von Technik und Zuwendung“. Das führe zu einer „bedeutsamen Unterversorgung in allen Kategorien der Menschlichkeit“.
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