Gartz (Oder) ist eine winzige Stadt im Nordosten Brandenburgs mit vielen Problemen: Die Kassen sind leer. Jeder zweite Bürger ist über 65 Jahre alt. Die Arbeitslosenquote in der Uckermark liegt bei 11,5 Prozent. Die Zukunft der PCK-Raffinerie in Schwedt - des größten Arbeitgebers der Region - ist ungewiss. Der Frust entlädt sich bei der Bundestagswahl: Mehr als 50 Prozent der Menschen geben ihre Stimme der AfD. Den 25-jährigen Bürgermeister von Gartz überrascht das nicht. "Die alten Parteien lassen sich im Wahlkampf nicht blicken, aber erwarten, dass die Gartzer sie wählen? Die AfD greift diese Arroganz und dieses Vakuum auf", sagt Luca Piwodda im "Klima-Labor" von ntv. Sein Erfolgsrezept für Stadt und Region? Mit Windkraft die Stadtkasse füllen und mit Wasserstoff Arbeitsplätze sichern.
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Luca Piwodda: Ja, in Gartz stehen weitere Termine an. Das Bürgermeisteramt ist auch nur ein Ehrenamt. Ich habe einen Vollzeitjob und bin zusätzlich Mitglied im Kreistag der Uckermark. Mit einigen Wegbegleitern habe ich auch einen Kulturverein gegründet, um die Gesellschaft in unserer Region zu beleben - ein ziemlicher Koordinierungswahnsinn.
Sind Sie in Gartz geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen?
Ja, meine Familie ist seit mehreren Generationen in der Stadt beheimatet. Meine Grundschule war in Gartz, das Gymnasium in Schwedt. Das ist die nächstgrößere Stadt mit 30.000 Einwohnern. Die ist 20 Kilometer entfernt.
Dann war der Führerschein sicherlich eine große Erleichterung.
Ja, aber ich wurde mit fünf Jahren eingeschult, also musste ich ein Jahr länger darauf warten als meine Klassenkameraden (lacht). Nach dem Abitur habe ich in Greifswald studiert, bin nach Gartz zurückgekommen und habe als Projektentwickler bei Enertrag angefangen. Das ist ein Unternehmen für erneuerbare Energien. Das ist bis heute mein eigentlicher Job. 2024 bin ich Bürgermeister und Kreistagsmitglied geworden.
Mit Ihrer eigenen Partei.
Ich war vorher wie mein Vater und Großvater in der SPD aktiv, aber die Strukturen haben einfach nicht gestimmt. Die SPD ist träge, es gab zu viele alte Menschen. Deswegen haben wir 2018 die Freiparlamentarische Allianz (FPA) gegründet. Inzwischen sind wir mit einer anderen Partei zur Partei des Fortschritts (PdF) geworden. Damit sind wir vergangenes Jahr auch ins Europaparlament eingezogen. Unser Wahlkampfbudget lag bei 1500 Euro.
Herzlichen Glückwunsch. Das wäre mit der SPD nicht gegangen?
Nein. Die alten Parteien ziehen sich aus Orten wie Gartz zurück. Bei der Bundestagswahl hat jede noch ein paar Plakate aufgehängt. Vermutlich hatten sie ein schlechtes Gewissen, denn sonst war niemand da. Union und SPD lassen sich nicht blicken, aber erwarten, dass die Gartzer sie wählen? Die AfD greift diese Arroganz und dieses Vakuum dankend auf. Die hat ein Sommerfest veranstaltet und kostenlos Bier und Bratwürste verteilt. Das reicht schon. Deswegen ist sie bei den Wahlen im ländlichen Raum so erfolgreich.
Und das rechtfertigt die Wahl von teilweise rechtsextremen Positionen?
Viele Kommunen im ostdeutschen ländlichen Raum finden in der Öffentlichkeit nicht mehr statt. Das wissen die Menschen. Sie wissen auch: Das ändert sich sofort, wenn sie die AfD wählen, denn deren Erfolge kann man nicht ignorieren. Diesen Menschen muss ich nicht zum x-ten Mal erklären, dass die AfD in Teilen rechtsextrem ist. Diese Moralisierung ist der falsche Weg, die Brandmauer auch. Die kann man sich in der Stadtversammlung nicht leisten, wenn eine Straße repariert werden muss. Die Menschen wollen Lösungen, auch für die PCK-Raffinerie in Schwedt: Das ist der größte Arbeitgeber der Region. Seit Kriegsbeginn steht sie unter Treuhandverwaltung der Bundesregierung, weil Russland über Rosneft Anteilseigner war. Auch drei Jahre später können Bund und Land den Menschen nicht sagen, ob 2000 Arbeitsplätze in der Raffinerie und 1200 bei den Zulieferern eine Zukunft haben oder nicht.
Sie schon?
Die PCK sagt, es muss wieder russisches Öl fließen. Das fände ich schwierig. Es gibt auch Pläne, die Raffinerie umzuwidmen, dort Wasserstoff herzustellen und im nächsten Schritt Ammoniak für die europäische Chemieindustrie oder Kerosin für den Transportmarkt. Die Bedingungen sind ideal, weil Schwedt ans Wasserstoffkernnetz angeschlossen werden soll. Aber natürlich muss man erst einmal klären, wie lange diese Umrüstung dauert und wie viel Geld sie kostet.
Die Menschen sind aber offen für diese Lösung?
Diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, schon. Denn denen wird mitgeteilt: Die Raffinerie bleibt ein wichtiger Standort der deutschen Wirtschaft. Das größte Problem der Politik ist wie so oft die Kommunikation. Die Landesregierung hat für die PCK eine eigene Taskforce eingerichtet, darin sitzen Ministerpräsident Woidke, die Bürgermeisterin von Schwedt, die Landrätin der Uckermark und die PCK-Geschäftsführung. Die tagen im Verborgenen, irgendwo in Potsdam. Niemand weiß, wann sie sich treffen und was sie besprechen. Sporadisch gibt es eine Pressemitteilung, in der aber auch nichts drinsteht. Das erzeugt Unmut. Die Menschen wissen nicht, ob sie mit diesem Job ihre Familien ernähren können. Deshalb protestieren sie. Wir wollen das ändern.
Erfolgreich?
Das Durchschnittsalter unserer Partei liegt bei 28 Jahren. Vor einem Jahr hatten wir 200 Mitglieder, inzwischen sind es 800 - weil wir Politik anders machen als Altparteien, die dem Zeitgeist hinterherhinken und ewig für Entscheidungen brauchen: Wir arbeiten digital und projektbezogen. Wir haben keinen Mitgliedsbeitrag. Nichtmitglieder dürfen mitdiskutieren - ideologiefrei. Die Sachebene steht an oberster Stelle.
Um welche Ziele zu erreichen?
Kommunalpolitik bedeutet hauptsächlich, Bundes- und Landespolitik zu erklären. Man sieht an den Wahlergebnissen, dass der Frust groß ist. Nicht nur in der Uckermark ist die Sichtweise: Für unsere kaputten Straßen ist kein Geld da, für alles andere schon? Deswegen bin ich auch gespannt, wie viel Geld des Infrastrukturpakets von Union und SPD tatsächlich in Brandenburg ankommt. Ansonsten möchten wir die noch aktiven Gruppen und Vereine bündeln, um das Ehrenamt zu stärken und kommunale Wertschöpfungsketten zu entwickeln. Unsere Stadtkassen sind nämlich leer.
Gartz schrumpft. Verlassen die Menschen die Stadt, weil nichts mehr passiert oder passiert nichts, weil die Menschen die Stadt verlassen?
In Gartz ist jeder zweite Einwohner über 65 Jahre alt. Ich glaube trotzdem, dass wir als Stadt aus diesem Abwärtsstrudel herauskommen können, bevor der Letzte das Licht ausmacht. Deswegen wiederhole ich gebetsmühlenartig drei Potenziale: Bürgerbeteiligung, erneuerbare Energien und Tourismus.
Wie reagieren Menschen in einer AfD-Hochburg, wenn Sie denen erneuerbare Energien als Lösung präsentieren?
Die sind offen für solche Konzepte, wenn man sie erklärt. Wir möchten gerne sieben Windräder oder einen Solarpark in der Region bauen. Daran schließen wir ein Nahwärmenetz an und garantieren niedrige Strompreise, damit die Menschen einen Vorteil im Portemonnaie merken. Man kann den erzeugten Strom auch verkaufen, zum Beispiel an Berlin. Die Einnahmen wären enorm: Eine Kommune kann laut Paragraf 6 EEG mit einer Windkraftanlage 30.000 Euro im Jahr verdienen.
Wirklich?
Ja, das rechne ich den Menschen immer wieder vor: Wir können uns noch drei Jahre beklagen, dass die Kassen leer sind und wir die Straßen nicht sanieren können, oder wir überlegen, wie wir Geld reinholen. Natürlich haben die Menschen Vorbehalte, darüber haben wir in einer Bürgerversammlung diskutiert. Der Großteil war einverstanden, es zumindest zu probieren. Wir müssen diese Themen auch ansprechen, denn wir sind zur Energie- und Wärmewende verpflichtet. Und wenn die Leute mich im Supermarkt fragen, wie unsere Lösung aussieht, kann ich mich nicht wie ein Bundespolitiker hinter einem Ausschuss verstecken, sondern muss eine Antwort liefern.
Und die lautet: Mit sieben Windrädern verdienen wir jedes Jahr 210.000 Euro für die Stadtkasse.
Das ist nur die Summe aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Dazu käme eine Einmalzahlung von 10.000 Euro pro Windrad aus Brandenburg und Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Denn wir möchten, dass die Betreibergesellschaft ihren Sitz in die Kommune verlegt. Das summiert sich.
Was würden Sie mit diesem Geld machen?
Die Liste ist lang. Für die Straßenprojekte haben wir und der Landkreis inzwischen Fördermittel von der Europäischen Union erhalten, aber unser Feuerwehrverein und andere Vereine bluten aus. Unser Bollwerk am Oderufer muss saniert werden. Dort möchten wir auch eine Art Promenade mit Fischgaststätte und Bootsverleih einrichten, um den Tourismus wiederzubeleben. Denn wir sind Gründungsstadt des Nationalparks Unteres Odertal und bereits seit 1249 eine Stadt. Diesen Titel verliert man nicht. Darauf sind wir stolz.
Mit Luca Piwodda sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
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