Artikel 5, die Beistandsklausel der Nato, funktioniere nur für diejenigen Länder, "die sich selbst verteidigen wollen", sagt der tschechische Sicherheitsexperte Tomáš Pojar. "Nur unter der Bedingung, dass die Europäer ihre eigenen Verteidigungsausgaben tätigen, werden die Amerikaner Artikel 5 einhalten. Da wir mehr tun, denke ich, dass Artikel 5 überleben wird und kann. Und ich hoffe, dass er überleben wird." Tomáš Pojar berät die tschechische Regierung in nationalen Sicherheitsfragen. Mit ntv.de sprach er am Rande einer Veranstaltung der Democratic Strategy Initiative in Berlin.

ntv.de: Herr Pojar, die ersten Wochen der neuen Trump-Administration haben in Europa eine sicherheitspolitische Schockwelle ausgelöst. Wie hat man das in Prag wahrgenommen?

Tomáš Pojar: Einerseits ist das Vorgehen der Amerikaner nicht überraschend: Schon Barack Obama warnte davor, dass Europa zu wenig für seine Verteidigung tut. 2011 sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates in München: "Seid vorsichtig, Europäer! Es wird eine nächste Generation amerikanischer Politiker geben, die die europäische Verteidigung nicht mehr finanzieren wollen." Andererseits ist das Vorgehen härter und radikaler als erwartet.

Wir müssen diese Realität anerkennen - und als Chance begreifen. Europa muss ernsthaft in seine Verteidigung investieren, unabhängiger von den USA werden und das transatlantische Bündnis neu ausrichten. 2014 war die Krim-Invasion ein erster Weckruf, 2022 der Angriff auf Kiew ein weiterer. Der jüngste Weckruf: die Wiederwahl von Donald Trump.

Bereits direkt nach dessen Wahl gab es einen Aufruf, eine "Koalition der Willigen" ohne Trumps USA zu bilden. Wie wird das in Prag wahrgenommen?

Ich habe immer an Koalitionen der Willigen geglaubt. Schon im letzten Jahr gab es eine solche - vor den Wahlen auch mit den USA. Nach der Münchner Sicherheitskonferenz wurde sie, vor allem durch Frankreich und Großbritannien, sichtbarer formuliert, in Absprache mit den USA, aber ohne deren direkte Beteiligung.

Wir setzen dieses Prinzip seit Beginn des Angriffs auf Kiew um: Mit unserer Munitions- und Waffen-Initiative für die Ukraine entstand eine eigene Koalition der Willigen, an der sich viele Länder seit 2023, einige sogar seit 2022, beteiligen.

Was macht den tschechischen Ansatz noch aus?

Nach dem Angriff auf Kiew haben wir als erstes Land gepanzerte Ausrüstung geliefert und seither rund 2000 schwere Geräte sowie 130 Millionen Schuss Munition bereitgestellt - darunter drei Millionen großkalibrige, finanziert von mehreren Ländern, auch der Ukraine. Das ist unsere Nische, und darauf konzentrieren wir uns.

Zur Stationierung von Truppen in der Ukraine waren wir zurückhaltender. Es ist zu früh für eine Entscheidung, da die Bedingungen unklar sind. Ich bin überzeugt - und darin wächst der Konsens -, dass die ukrainische Armee selbst die wichtigste Abschreckung gegen Russland ist. Westliche Truppen könnten zwar unterstützen, aber nicht abschrecken.

Und warum nicht?

Man darf sich nie in erster Linie auf ausländische Soldaten verlassen. Das ist meine Lektion aus Israel, und ich denke, das sollte jeder lernen: Die eigene Armee und Verteidigungsfähigkeit sind das Fundament von Abschreckung und Sicherheit. Unterstützung durch andere ist wertvoll - aber nur dann, wenn sie auf eigener Stärke aufbaut.

Und inwieweit ist die Ukraine-Hilfe ein Thema der nationalen Sicherheit?

Für uns ist es das wichtigste Problem der nationalen Sicherheit, denn eine Niederlage und Eroberung der Ukraine würde bedeuten, dass russische Soldaten an der slowakischen Grenze stationiert wären. Wir betrachten den Kampf der Ukrainer um ihre Verteidigung und die Verteidigung ihrer Stellungen auch als einen Kampf für den Rest Europas, Mitteleuropas und für uns. Deshalb tragen wir zu ihrer Verteidigung bei.

Betrachtet Tschechien die USA immer noch als wichtigsten Partner im Bereich Sicherheit?

Ohne die USA ist die Unterstützung der Ukraine viel komplizierter. Es besteht ein gemeinsames Verständnis mit den USA, dass wir mehr tun müssen. Aber es wird Zeit brauchen - das gilt auch für die Fähigkeit, die Ukraine zu unterstützen. Ich bin daher froh, dass die USA weiterhin unterstützen. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, dass die USA an unserer Seite bleiben. Diese Zusammenarbeit hat auch Bezug zu Artikel 5 und zur Funktionsweise der Nato. Die Alternative, dass die Nato nicht existiert und wir allein gelassen werden, ist keine rosige - wir sollten sie unbedingt vermeiden.

Heute stellt sich aber die Frage, wie verlässlich die Verpflichtung zu Artikel 5 ist…

Artikel 5 funktioniert nur für diejenigen, die sich selbst verteidigen wollen. Nur unter der Bedingung, dass die Europäer ihre eigenen Verteidigungsausgaben tätigen, werden die Amerikaner Artikel 5 einhalten. Da wir mehr tun, denke ich, dass Artikel 5 überleben wird und kann. Und ich hoffe, dass er überleben wird.

Geht es also nur um Ausgaben?

Es geht um den Aufbau von Fähigkeiten. Ja, man muss Geld in die Hand nehmen, aber man muss es mit Bedacht ausgeben. Man muss eigene Technologien haben und Soldaten, die diese Waffen bedienen können. Ohne diese Kapazitäten gäbe es für zukünftige amerikanische Präsidenten - egal ob Republikaner oder Demokrat - kein Argument, warum sie sich um Europa kümmern sollten, wenn Europa nicht für sich selbst sorgen will.

Hätten die Ukrainer nicht begonnen, sich selbst zu verteidigen, dann wäre Kiew bereits in russischer Hand. Als die ganze Welt, und übrigens auch die Ukrainer selbst sahen, wie die russischsprachigen Einwohner Charkiws ihre Stadt gegen die russischen Invasoren verteidigten, schickten sie Unterstützung zu ihrer Verteidigung. Ich halte das für eine rationale und vernünftige Logik.

Sind die mittelosteuropäischen Nachbarländer durch den Rückzug der USA stärker zusammengewachsen?

Wir haben unsere Zusammenarbeit mit Deutschland und der Ukraine deutlich ausgebaut. Besonders eng ist sie mit Ländern wie Dänemark und den Niederlanden, und zwar intensiver als je zuvor. Mit Polen teilen wir seit jeher ähnliche strategische Ansichten. Aus Prager Sicht sind Polen und die Ukraine unsere direkten Schutzschilde gegenüber Russland.

Die Lage nutzen wir zur Modernisierung unserer Streitkräfte und zur Zusammenarbeit mit ausgewählten Partnern. Diese Kooperation erfolgt meist bilateral, wird aber zunehmen - etwa durch gemeinsame Beschaffung, Forschung, Umstrukturierung der Rüstungsindustrie, der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und einigen Fusionen in der Rüstungsindustrie.

Tschechische Rüstungsunternehmen investieren mittlerweile in ganz Europa und den USA, bauen Tochtergesellschaften auf - ein neues Phänomen, das auch staatliche Kooperationen durch gemeinsame Einkäufe und Investitionen fördert.

Im Herbst stehen Wahlen an: Wird Tschechien die Ukraine auch weiterhin unterstützen?

Es hängt davon ab, welche Regierungsform gebildet wird. Die verschiedenen Parteien vertreten unterschiedliche Ansichten, und es könnte Veränderungen geben. Dennoch: Es gibt zwar Unterschiede, aber wir sind keine Ungarn. Wir werden aber auch sehen, unter welchen Voraussetzungen die neue Regierung gebildet wird und wie die Lage in der Ukraine in einem halben Jahr aussehen wird. Wir wissen es nicht.

Früher haben wir uns hauptsächlich auf Desinformation aus Russland konzentriert. Jetzt hören wir solche Narrative auch aus dem Weißen Haus. Wie gefährlich ist das?

Ich denke, wir sollten wirklich ernst nehmen, dass wir eine leichte Beute sind, wenn wir nicht allein stark sind - nicht nur militärisch und verteidigungstechnisch, sondern auch wirtschaftlich gesehen. Wir müssen unser Handeln grundlegend überdenken, denn wenn unsere Wirtschaft nicht stark und wir nicht wettbewerbsfähig sind, werden wir weder von unseren Freunden noch von unseren Feinden ernst genommen. Das ist die Lehre aus Russland, und ja, das ist auch die Lehre der amerikanischen Regierung in Bezug auf Verteidigungs- und Sicherheitsfragen, aber ich denke, noch wichtiger ist die Lehre in Bezug auf Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftsfragen.

Wo sehen Sie die größten Hindernisse für eine gemeinsame europäische Reaktion?

Es liegt in der Denkweise. Wir haben gemeinsam die sehr teuren und unflexiblen Regeln für die Wirtschaft geschaffen. Hier ist ein Umdenken erforderlich. Wir sollten uns auf den Ausbau des Binnenmarkts und auf Energiesicherheit konzentrieren, denn letztlich brauchen wir zuverlässige und günstige Energie, um wettbewerbsfähig zu sein. Und wir müssen ernsthaft an der Entbürokratisierung unserer Systeme arbeiten, der EU und unserer nationalen Systeme.

Wir müssen unsere weltweiten Konkurrenten analysieren, daraus lernen - und verstehen, dass unsere risikoscheue Gesellschaft zu kostspielig, zu innovationshemmend und nicht nachhaltig ist. Wir müssen also in der Wirtschaft und in unserem eigenen Denken mehr Risiken zulassen. Ansonsten führt das letztlich zu Stagnation und verminderter Wettbewerbsfähigkeit.

Was erwarten Sie von der neuen deutschen Regierung?

Wir hatten gute Beziehungen zu den scheidenden Regierungen, glauben aber, dass die Zusammenarbeit mit Deutschland vertieft werden kann. Als Tschechen freuen wir uns übrigens über die Regierungsbeteiligung Bayerns und Sachsens, denn sie sind unsere wichtigsten Partner, da sie unsere direkten Nachbarn sind!

Wir sind zuversichtlich, die begonnene Verteidigungskooperation weiter voranzutreiben und wollen diese beschleunigen - etwa mit der baldigen gemeinsamen Beschaffung des Leopard-8-Panzers. Es gibt weitere Projekte, die unsere Armeen, unsere Verteidigungsministerien und unsere Industrie gemeinsam umsetzen können. Das Potenzial ist groß. Wir freuen uns daher auf die Zusammenarbeit mit Deutschland bei praktischen Fragen.

Tschechien setzt sich sehr dafür ein, dass russische Diplomaten weniger Reisefreiheit in der EU genießen. Wie wichtig ist das für die europäische Sicherheit?

Es ist wichtig, die Bewegungsfreiheit russischer Diplomaten innerhalb der Europäischen Union und des Schengen-Raums auf die Länder zu beschränken, in denen sie eingesetzt sind. Bisher gab es nur wenig Gegenwehr - Deutschland führt den Widerstand an. Wir hoffen daher, dass sich das ändert. Wir sehen ja, wie die Russen sich koordinieren, um uns allen zu schaden. Deshalb müssen wir gemeinsam darauf reagieren.

Mit Tomas Pojar sprach Kristina Thomas

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