An der Dialogkonferenz der SPD in Hannover hat auch die Juso-Bezirksvorsitzende Lisa Jarmuth teilgenommen. Sie wollte von der Parteispitze wissen, wie es sein kann, dass die SPD im Koalitionsvertrag einer Aufweichung des Achtstundentags zugestimmt habe: Im Koalitionsvertrag heißt es, die nächste Bundesregierung wolle "die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen". Jarmuth lehnt nicht nur diesen Punkt ab. Sie fordert, dass der Koalitionsvertrag nachverhandelt wird.

ntv.de: Gab es bei der Veranstaltung am Montagabend in Hannover ein Argument der Parteispitze, das Sie überzeugt hat?

Lisa Jarmuth: Tatsächlich nicht wirklich. Für mich sind die Bereiche Arbeit und Soziales sowie Migration echte Dealbreaker. Deshalb kann ich nicht für diesen Koalitionsvertrag stimmen.

Zur Migrationspolitik gab es kaum Fragen. Woran könnte das gelegen haben?

Ich glaube, es wurden insgesamt nicht so viele Fragen gestellt, weil die Antworten der Personen auf dem Podium recht lang waren. Und für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind Fragen aus dem Bereich Arbeit und Soziales sehr wichtig, deswegen wurden eher Fragen in diese Richtung gestellt. Wie von mir zum Achtstundentag. Jahrzehntelang haben wir gemeinsam mit den Gewerkschaften für die Durchsetzung des Achtstundentags gekämpft. Eine Abkehr davon wäre wirklich fatal.

Sie sagten, dieser Punkt müsse geändert werden, "damit dieser Koalitionsvertrag für uns Jusos annehmbar wird". Das heißt, Sie fordern Nachverhandlungen?

Wir hätten gern Nachverhandlungen, ja, insbesondere in den Kapiteln Arbeit und Soziales sowie Migration. Es ist nicht nur der Achtstundentag. Es kann doch nicht sein, dass in einem Koalitionsvertrag festgeschrieben wird, dass 15 Euro Mindestlohn bis 2026 erfolgen sollen, und dann sagt Friedrich Merz wenige Tage später, es sei gar nicht sicher, dass dies wirklich so umgesetzt wird. Allein das sehen wir Jusos als Grund für Nachverhandlungen.

Es gab in Hannover viel Kritik an der CDU, neben Merz vor allem an Jens Spahn. Was stört Sie an denen?

Was mich an Merz stört, ist, dass er öffentlich Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag relativiert. Und ein Jens Spahn strebt offenbar eine Normalisierung der AfD an. Das ist für mich nicht tragbar, schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt, wo man gerade erst einen Koalitionsvertrag verhandelt hat.

Hat Merz nicht recht? Im Koalitionsvertrag steht ja nicht: Wir werden den Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen. Sondern der Vertrag betont die Rolle der Mindestlohnkommission und erklärt, dass 15 Euro im Jahr 2026 "erreichbar" seien.

Sie sind erreichbar, weil die Mindestlohnkommission sich an der Tarifentwicklung und an 60 Prozent des Bruttomedianlohns orientieren muss - das steht ja auch im Koalitionsvertrag. Praktisch bedeutet das, dass die 15 Euro kommen werden. Wir sind ja eigentlich schon durch eine EU-Richtlinie angehalten, den Mindestlohn zu erhöhen, aber die Mindestlohnkommission hat das nicht gemacht.

Der geschäftsführende Arbeitsminister Hubertus Heil hat Ihnen in Hannover zugestanden, dass der Achtstundentag "ein schwieriger Kompromiss" gewesen sei, aber das sei schon so im Koalitionsvertrag der Ampel verabredet gewesen.

Das ist doch kein Argument. Wir müssen uns immer für unsere Kernklientel einsetzen, für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Deshalb lehne ich es ab, dass so etwas in einem Koalitionsvertrag steht, den die SPD mitträgt.

Heil sagte auch, gerade wegen der schwierigen Kompromisse sei es "so verdammt wichtig, dass die SPD das Arbeitsministerium behält".

Natürlich ist es superwichtig, dass die SPD das Ministerium für Arbeit und Soziales behält. Mit einem solchen Ministerium können wir, wenn der Koalitionsvertrag angenommen werden sollte und die Koalition zustande kommt, natürlich Akzente setzen.

SPD-Chef Lars Klingbeil sagte zur Forderung nach Nachverhandlungen, das möge "nett gemeint sein", aber die Vorstellung, den Koalitionsvertrag abzulehnen und einzelne Punkte nachzuverhandeln, funktioniere "nur in der Theorie". Riskieren Sie, dass die Regierungsbildung scheitert?

Wenn wir uns die vergangenen Mitgliederbefragungen angucken, dann wurden die immer angenommen, auch 2017. Die Parteispitze geht ja auch dieses Mal davon aus, dass der Koalitionsvertrag angenommen wird. Wir als Jusos wollen mit unserer Empfehlung, den Koalitionsvertrag abzulehnen, darauf aufmerksam machen, dass es Punkte gibt, die strittig sind. Wir wollen, dass die SPD sich stärker für diese Punkte einsetzt. Und wir wollen ein lautes Zeichen setzen.

Dann gehen Sie gar nicht davon aus, dass der Koalitionsvertrag abgelehnt wird?

Jedenfalls geht die Parteispitze nicht davon aus.

Spielt für Ihre Argumentation eine Rolle, dass Klingbeil bislang keine Konsequenzen aus dem schlechten Wahlergebnis gezogen hat?

Wir Jusos sehen es kritisch, dass eine Person, die maßgeblich für die verlorene Wahl der SPD verantwortlich ist, sich noch am Abend der Wahl, während noch Stimmen ausgezählt werden, selbst zum Fraktionsvorsitzenden vorschlägt und ein paar Tage später wählen lässt. Jetzt wird gemunkelt, dass er Finanzminister und Vizekanzler werden soll. Das ist nicht der Erneuerungsprozess, den wir von der SPD nach einem solchen Wahlergebnis erwarten.

Gilt das auch für Saskia Esken?

Das gilt für die gesamte Parteispitze. Allerdings sehe ich nicht, dass Saskia Esken Vizekanzlerin werden möchte.

Was bedeutet Ihre Kritik an Lars Klingbeil konkret? Sollte er aus Ihrer Sicht in den nächsten vier Jahren kein herausgehobenes Amt ausüben?

Für uns Jusos ist wichtig, dass eine neue Parteispitze gewählt wird. Und wir denken nicht, dass jemand, der eine Wahl verloren hat, direkt neue Spitzenämter übernehmen sollte.

Klingbeil hat in Hannover auf die Möglichkeit verwiesen, dass die Union, sollte es mit der schwarz-roten Koalition nicht klappen, in Richtung AfD gedrängt werden könnte. Gibt Ihnen das zu denken?

Natürlich. Neuwahlen sind auch nicht unser Ziel. Wir möchten einfach, dass in den Themen, die uns wichtig sind, nachverhandelt wird, damit das Beste aus dieser Koalition rausgeholt werden kann. Dafür stehen wir Jusos ein.

Mit Lisa Jarmuth sprach Hubertus Volmer

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