Seit Russlands Invasion der Ukraine und Putins wiederholten Drohgebärden gegen Europa steht die Frage der militärischen Abschreckung nach Jahren der Abrüstung wieder ganz oben auf der Agenda vieler europäischer Regierungen. Europa müsse mehr investieren, um Russland von einem Angriff abzuhalten – und um im Ernstfall etwas entgegensetzen zu können, heißt es immer wieder vonseiten der Politik und Experten.

Doch die Debatte um Militärausgaben führt am Kern des Problems vorbei. Es geht nicht nur darum, wie viel man ausgibt, sondern welche Kapazitäten bereitgestellt werden. In vielen Bereichen können die Europäer gut mit Russland mithalten oder sind gar überlegen, etwa bei der Luftwaffe. Anderswo gibt es noch immer große Lücken – vor allem in drei Feldern. Ein Überblick.

Drohnen

Im Laufe des Ukraine-Kriegs avancierten Drohnen zu einem wichtigen Instrument auf beiden Seiten des Konflikts. Militärisch machen allerdings nicht teure Hightech-Drohnen den Unterschied, sondern günstige und einfach herzustellende Einwegdrohnen.

Manche dieser Fabrikate können vorprogrammiert hunderte Kilometer weit fliegen und stürzen mit einer etwa 50 Kilogramm schweren Sprengladung auf stationäre Ziele. Andere, sogenannte FPV-Drohnen, kommen unmittelbar an der Front gegen Stellungen oder Fahrzeuge des Feindes zum Einsatz, in Echtzeit gesteuert von einem Drohnenpiloten. Sowohl Russland als auch die Ukraine setzen beide Arten von Einwegdrohnen ein. Dazu kommen umgerüstete, im Handel erhältliche Kameradrohnen, die etwa zum Abwurf von Granaten eingesetzt werden.

Bei Russlands fast täglichen Angriffen auf ukrainische Städte bilden Langstreckendrohnen vom Typ Schahed die Mehrheit der Angriffswaffen, im Schnitt sind zwischen 150 bis 200 Drohnen an einer Attacke beteiligt. Sie sind aufgrund des verhältnismäßig geringen Gewichts der Sprengladung zwar weitaus weniger zerstörerisch als ballistische Raketen, Marschflugkörper oder die Artillerie – die meisten Drohnen werden abgeschossen oder durch elektronische Kampfführung zum Absturz gebracht.

Zugleich können sie leicht die Flugabwehrsysteme der Ukrainer durch ihre schiere Masse überfordern und so Lücken für gefährlichere Waffen schaffen – vor allem, wenn sie zusammen mit Radarködern ohne Sprengladung eingesetzt werden. Allein davon soll Russland laut dem ukrainischen Militärgeheimdienst HUR etwa 10.000 Stück jährlich produzieren.

Laut einer Studie der US-Denkfabrik Center for Strategic & International Studies ist keine andere russische Langstreckenwaffe pro getroffenes Ziel günstiger. Russland baut massiv die Produktion von Schahed-artigen Drohnen aus und soll laut HUR bald 500 solcher Flugkörper pro Tag einsetzen können.

Auch in der ukrainischen Kriegsführung sind Drohnen aus eigener Herstellung seit 2023 ein wichtiger Bestandteil, ihre Produktion wird systematisch ausgeweitet. Seit dem Herbst 2024 fliegen Langstreckendrohnen nahezu täglich Ziele in Russland an. Dutzende gegnerische Militäreinrichtungen wurden so beschädigt oder ganz zerstört.

Die Europäer verfügen nicht ansatzweise über vergleichbare Produktionskapazitäten wie Russland und die Ukraine. Die EU will nun untersuchen lassen, wie Massenproduktion von Einwegdrohnen organisiert werden kann. Frankreich will in diesem Jahr 2000 einheimisch hergestellte Einwegdrohnen in Dienst stellen. Die Bundeswehr will Einwegdrohnen immerhin erproben.

Munition

Dass die EU nicht genug Munitionsvorräte und Produktionskapazitäten für einen mit Artillerie geführten Landkrieg besitzt, ist spätestens seit Russlands Großinvasion der Ukraine bekannt. Allmählich ändert sich das. In diesem Jahr sollen in der EU laut Verteidigungskommissar Andrius Kubilius zwei Millionen Artilleriegeschosse hergestellt werden.

Auf den ersten Blick ist das eine beeindruckende Zahl. Allein Rheinmetall produziert heute etwa 700.000 pro Jahr, verglichen mit 70.000 im Jahr 2022. Doch in der Realität dürfte ein großer Teil dieser Produktion nicht in den Arsenalen der EU-Mitgliedsstaaten landen, sondern direkt in die Ukraine gehen.

Dazu kommt: Die russische Produktion wird selbst diese Zahl übertreffen, welche die EU eine halbe Milliarde Euro an Subventionen kostet. Der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha geht davon aus, dass Russland die Produktionskapazitäten aller EU-Länder in diesem Jahr um 30 Prozent übertreffen wird. US-General Chris Cavoli sagte kürzlich bei einer Anhörung im Kongress, dass Russland etwa 250.000 Artilleriegranaten im Monat produziert – also etwa drei Millionen im Jahr.

Bei Luftabwehrraketen, die in der Produktion komplexer sind, ist die Lage ernst. Das deutsche Unternehmen Diehl Defence produzierte im vergangenen Jahr gerade einmal 500 Raketen für das IRIS-T-System, das vor allem gegen Drohnen und teils gegen Marschflugkörper effektiv ist. Die Produktionszeit für Abwehrraketen für die französisch-italienische Patriot-Alternative SAMP/T, die auch gegen schwere ballistische Raketen eingesetzt werden kann, beträgt derzeit 42 Monate – und soll im kommenden Jahr auf 18 Monate reduziert werden.

Mit der European Sky Shield Initiative wollen die Europäer ein gemeinsames mehrstufiges Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsystem aufbauen. Bei derzeitiger Planung wäre es aber von Importen abhängig: große Reichweiten sollen amerikanische Patriot-Systeme abdecken, ballistische Raketen soll in den oberen Atmosphärenschichten bis zu 100 Kilometer Höhe das israelische Arrow-3-System abfangen.

Raketen und Marschflugkörper

Laut dem ukrainischen Militärgeheimdienst produziert Russland pro Jahr etwa 1200 Marschflugkörper, die gegen Landziele eingesetzt werden können, sowie 400 ballistische Raketen mit kurzer und mittlerer Reichweite. Der Kreml verfügt also über Waffen, die von russischem Territorium aus fast in ganz Europa Ziele erreichen können – bis auf in Spanien und Portugal.

Ein großer Teil der Produktion wird laut Experten wie Fabian Hoffmann, Militärexperte an der Universität Oslo, inzwischen zurückgehalten, um die in den ersten Jahren des Ukraine-Kriegs geschrumpften Arsenale wieder zu füllen. Das bedeutet: Für eine mögliche Konfrontation mit der Nato in Europa will der Kreml nicht nur mit Atomwaffen als letztem Ausweg gut aufgestellt sein, sondern auch mit konventionell bestückten Raketen.

Derzeit kann Europa diesen russischen Raketen wenig entgegensetzen. Taurus-Marschflugkörper werden derzeit nicht produziert. Die Produktion soll erst dank des jüngsten Auftrags aus Schweden wieder anlaufen, mit Produktionszahlen von etwa 40 bis 60 Stück pro Jahr, wie Hoffmann schätzt. Ähnliche Zahlen dürften im Fall der britisch-französischen Variante Scalp-EG vorliegen. Die Produktionszahl bei ballistischen Raketen liegt laut Hoffman bei null.

Ansonsten ist Europa von amerikanischen Fabrikaten wie ATACMS oder JASSM abhängig. Die mächtigste Waffe, die den Europäern zur Verfügung steht, ist wohl der seegestützte Tomahawk-Marschflugkörper der britischen Marine. Mit dem ELSA-Projekt – European Long-Range Strike Approach – wollen Deutschland, Frankreich, Polen und Italien einheimische Waffen mit einer Reichweite von bis zu 2000 Kilometern entwickeln.

Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.

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