Belit Onay, 44, ist seit 2019 Oberbürgermeister von Hannover. Der türkischstämmige Grünen-Politiker ist der erste Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt mit Migrationshintergrund.

WELT: Herr Onay, wie wichtig wäre aus Ihrer Sicht, dass es im Bund zwischen Union, SPD und den Grünen zu einer Einigung über das Milliarden-Schuldenpaket kommt?

Belit Onay: Eine Einigung, die auch die Kommunen berücksichtigt, halte ich für dringend notwendig. Die aktuellen Vorschläge von CDU und SPD gehen aus meiner Sicht aber nicht weit genug. Schon aus den Bundesländern gibt es deutliche Kritik, dass Länder und Kommunen nicht ausreichend bedacht wurden.

Für Infrastruktur-Investitionen sind auf Landesebene lediglich 100 Milliarden Euro vorgesehen – wie viel davon tatsächlich bei den Kommunen ankommt, ist völlig unklar. Die Erfahrung zeigt zudem, dass Länder, die selbst unter finanziellem Druck stehen, nicht alle Mittel weiterleiten. Es ist also zu erwarten, dass nur ein kleiner Teil bei den Kommunen ankommt.

WELT: Löst der Alternativvorschlag der Grünen diese Problematik?

Onay: Grundsätzlich geht der Vorschlag in die richtige Richtung, weil er das Problem zumindest anerkennt. Sowohl die Länder als auch die Kommunen müssen bei der Finanzverteilung berücksichtigt werden – das ist ein wichtiger Schritt. Für eine verlässliche Planung brauche ich aber mehr als nur eine Richtungsvorgabe – es braucht klare Zusagen. Wir müssen sicher sein, dass Gelder in relevanter Größenordnung tatsächlich bei uns ankommen.

WELT: Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) fordert eine schnelle Einigung und wirft den Grünen eine Blockadehaltung vor. Ist diese Kritik berechtigt?

Onay: Absolut nicht. Den Zeitdruck hat Friedrich Merz selbst zu verantworten. Robert Habeck (grüner Noch-Wirtschaftsminister, d. Red.) hatte bereits vor der Wahl vorgeschlagen, das Thema frühzeitig zu klären – damals wäre eine saubere Lösung mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit möglich gewesen. Doch Merz hielt das nicht für nötig. Sein damaliger Standpunkt war klar: keine Lockerung der Schuldenbremse, keine Verhandlungen in diese Richtung.

Dennoch ist es wichtig, jetzt schnell zu einer Lösung zu kommen. Aber diese muss alle relevanten Akteure mitnehmen. Eine Friss-oder-stirb-Taktik gegenüber den Grünen ist keine Option.

WELT: Was müsste aus Ihrer Sicht unbedingt in das Paket, damit die Grünen zustimmen?

Onay: Ein zentraler Punkt ist ein erweiterter Sicherheitsbegriff. Sicherheit bedeutet nicht nur eine Stärkung der Bundeswehr, sondern umfasst eben auch den Schutz vor Cyberangriffen auf Kommunen, Stadtwerke und Unternehmen sowie die Abwehr von Angriffen auf demokratische Strukturen vor Ort, die in den letzten Jahren spürbar zugenommen haben.

Ein weiterer essenzieller Aspekt ist der Klimaschutz und die Klimafolgen-Anpassung. Themen wie Hochwasserschutz, Maßnahmen gegen Hitzewellen und eine nachhaltige Infrastruktur müssen Teil des Pakets sein. Gleichzeitig darf die Wärmewende nicht gefährdet werden – ein Rückdrehen des Heizungsgesetzes, wie es derzeit diskutiert wird, wäre fatal und würde viele Menschen finanziell überfordern.

WELT: An welcher Stelle könnte Ihre Partei den anderen noch entgegenkommen?

Onay: Ich bin nicht in der Rolle des Verhandlers – das entscheidet die Partei. Mein Appell wäre jedoch, eine Lösung zu finden, die wirklich tragfähig ist. Wenn ich mir die aktuellen Vereinbarungen von SPD und CDU in den Sondierungspapieren anschaue, sehe ich erneut eine Gefahr für die kommunale Ebene. Gerade Steuervergünstigungen, die in Aussicht gestellt werden, bedeuten fast immer, dass Dritte die Last tragen müssen – und diese Dritten sind im Zweifel die Kommunen.

WELT: Welche dringend notwendigen Investitionen sind durch fehlende Bundesmittel aktuell in Hannover blockiert?

Onay: Die Investitionsstaus in Schulen, Schwimmbädern und der Infrastruktur sind gravierend, weil in der Vergangenheit zu wenig investiert wurde. Gleichzeitig bricht die Einnahmeseite ein – Steuereinnahmen fließen nicht mehr wie früher. Auch die Kreditsituation hat sich verschlechtert, es fehlt an Personal und damit an Kapazitäten, um Projekte überhaupt umzusetzen. Das führt zu einer dramatischen Situation für die Kommunen. Wer das Vertrauen in den Staat stärken will, muss also bei den Kommunen ansetzen und dort Investitionen gezielt ermöglichen.

WELT: Wie bewerten Sie das Abschneiden der Grünen bei der Bundestagswahl?

Onay: Die Grünen haben inhaltlich wichtige Themen gesetzt, doch strategische Fehler im Wahlkampf haben sie Stimmen gekostet. Besonders in der Auseinandersetzung mit Friedrich Merz und der AfD wurde zu sehr auf Versöhnung gesetzt, anstatt klare rote Linien zu ziehen. Die Partei muss künftig deutlicher kommunizieren, wofür sie steht, und sich weniger in vorweggenommenen Kompromissen verlieren. Eine konstruktive, aber entschlossene Opposition kann helfen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Maximilian Heimerzheim ist Volontär bei WELT.

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