"Ich saß einen halben Tag rum", klagen Soldaten in Emails an Eva Högl. Das Problem klingt banal, aber schlechte Ausstattung ist öde und die Privatwirtschaft lockt. "Uns gehen gute Leute verloren", sagt die Wehrbeauftragte und sieht eine Gefahr für die Truppe.
"Zu wenige, zu alt" - so ließe sich der Personalstand der Bundeswehr gemäß Jahresbilanz der Wehrbeauftragten Eva Högl auf den Punkt bringen. Von rund 181.500 Soldatinnen und Soldaten soll die Truppe bis zum Jahr 2031 eigentlich dringend auf 203.000 aufwachsen. Statt sich Stück für Stück in diese Richtung zu bewegen, ging es im vergangenen Jahr jedoch abwärts. "Zum Jahresende waren 181.174 Soldatinnen und Soldaten bei der Bundeswehr", bilanzierte SPD-Frau Högl bei der Vorstellung ihres Berichts in Berlin. 340 weniger als im Vorjahr.
Kein dramatischer Abstieg, dennoch alarmierend. Denn das Verteidigungsministerium hatte den Personalaufbau schon in den vergangenen Jahren als zentrale Aufgabe erkannt. Die neu gegründete Task Force Personalgewinnung entwickelte mehr als 60 Maßnahmen, um Personal zu gewinnen. Die Verantwortlichen hätten "wirklich alle guten Ideen versammelt, wie die Personalentwicklung, aber auch die Personalbindung verbessert werden kann", bescheinigt Högl und nennt als Beispiel einen stärker regionalen Ansatz: Junge Leute können heimatnah eingesetzt werden, dazu gibt es auch regionale Werbung. Zudem präsentiere sich die Bundeswehr in sozialen Medien realistischer als in der Vergangenheit. "Es nützt ja nichts, wenn man so tut, als ob Soldat ein ganz normaler Job sei".
Alles richtig, alles positiv, laut Högl. Und die Bewerberzahlen zeigen tatsächlich nach oben: Rund 51.200 Personen haben sich laut Wehrbericht im vergangenen Jahr für eine militärische Tätigkeit beworben, deutlich mehr als im Vorjahr mit 43.200. Eingestellt wurden dann auch acht Prozent mehr als im Vorjahr. Einerseits gut, andererseits: Genutzt hat der Erfolg unterm Strich nichts. Denn von knapp 19.000 im Jahr 2023 angetretenen Soldaten warfen fast 5000 ihre Flinte schon wieder ins Korn, noch bevor sie das erste halbe Jahr absolviert hatten.
Jeder vierte Neueinsteiger ist nach wenigen Wochen wieder weg. Eine derart hohe Abbrecherquote muss alarmieren, weshalb die Bundeswehr inzwischen Abbrecher darum bittet, sie in einem anonymen Fragebogen wissen zu lassen, wo die Gründe für die Entscheidung liegen. "40 Prozent sagen, persönliche Gründe", gibt Högl an. "Die meisten jungen Leute haben eine andere Alternative" - sprich: ein besseres Jobangebot außerhalb der Truppe. "40 Prozent sagen, nicht heimatnah genug", das zeigen die Fragebögen. Über Mobbing, Diskriminierung, überzogene Härte, rechtsextreme Übergriffe oder dergleichen im großen Stil hat die Wehrbeauftragte keine Erkenntnisse als Begründung für den frühen Austritt aus der Bundeswehr. Sie sieht das Defizit an anderer Stelle: "Das größte Problem ist Langeweile."
"Ich saß einen halben Tag rum"
Was im ersten Moment erstaunen mag, leuchtet im zweiten durchaus ein: Je motivierter eine Person in die Bundeswehrlaufbahn eintritt, desto mehr muss es frustrieren, wenn sie recht schnell mit allerlei Unzulänglichkeiten konfrontiert wird. Die Kasernen, laut Högl-Bericht "immer noch teilweise in einem desaströsen Zustand", sind da nur ein Faktor. Ein anderer: Wenn dem Panzerbataillon sowohl Panzer als auch Ausbilder fehlen. Manchmal schreiben der Wehrbeauftragten junge Leute: "Ich saß einen halben Tag rum oder einen ganzen Tag", berichtet Högl vor der Presse. "Das darf nicht passieren."
"Wenn die jungen Leute keine Beschäftigung haben, wenn es nicht genügend Gerät gibt, nicht genügend Ausbilder, wenn die Stuben nicht einigermaßen sauber und ordentlich sind - das schreckt ab."
Wie wichtig es für junge Neueinsteiger ist, gefordert zu werden, zeigt sich auch, wenn die Bundeswehr überproportional viele Bewerbungen für die Truppengattungen wie Fallschirmjäger oder Gebirgsjäger verzeichnet. Diese Verbände sind jedoch bereits gesättigt. "Wir könnten zwei Fallschirmjägerbrigaden aufstellen, aber haben nur 60 Prozent des Logistik- und IT-Personals", klagte Heeresinspekteur Alfons Mais schon im vergangenen Herbst. Hier ist es schwierig für die Bundeswehr, mit den Jobmöglichkeiten auf dem freien Markt mitzuhalten.
Der Investitionsbedarf bei der Infrastruktur liegt laut Wehrbericht bei 67 Milliarden Euro. Investiert wurden im vergangenen Jahr: 1,6 Milliarden. Gegenübergestellt: 67 Milliarden Bedarf und 1,6 Milliarden als Antwort, das heißt, der immense Rückstand in der Infrastruktur wird kaum adressiert. Warum nicht? "Wir haben kein Erkenntnisdefizit", antwortet Högl auf Nachfrage von ntv.de. "Alle wissen, wo der Handlungsbedarf ist." Es sei ein Kraftakt, die Bundeswehr unter Hochdruck wieder flott zu machen, das gehe nicht von heute auf morgen.
Nicht immer allerdings sind Investitionen eine reine Frage der Finanzen, sondern das Tempo für Verbesserungen in der Infrastruktur entscheidet sich auch an Vorgaben der Bürokratie. Hier geht Bayern als Bundesland laut Högl einen progressiven Weg, indem es für Kasernen das bayerische Baurecht aussetzt. "Die Bundeswehr kann dort bauen, ohne die Feinheiten der bayerischen Landesbauordnung berücksichtigen zu müssen", lobt die SPD-Politikerin. Der Fortschritt bei der Infrastruktur sei in den Kasernen dort schon sichtbar.
"Uns gehen gute Leute verloren"
Doch selbst wenn die Kaserne saniert ist, der Bewerber begeistert, die Truppe bereit - selbst dann kann die Einstellung noch scheitern, denn: Die Bundeswehr hat zwar enormen Bedarf an zusätzlichen Kräften, aber nicht genug Geld, um sie zu bezahlen. Eine absurde Situation. Viele Bewerber waren 2024 nach Högls Erkenntnissen "Wiedereinsteller", also solche, die zur Bundeswehr zurückkehren wollten, oder Seiteneinsteiger. "Die konnten zum Teil nicht verwirklicht werden, weil es keine Planstellen gab. Das ist natürlich maximal ärgerlich." Auch dem Wunsch manches Zeitsoldaten, Berufssoldat zu werden, kann nicht entsprochen werden, wenn die Planstellen fehlen. "Da gehen uns gute Leute verloren."
Der Wehrbericht macht deutlich, dass Aufwuchs bei der Bundeswehr nicht nur eine Frage der Personalgewinnung ist. Wer keine attraktiven Bedingungen bieten kann, wird im Wettbewerb mit der freien Wirtschaft häufig das Nachsehen haben, gerade bei qualifizierten Leuten. Wie Högl selbst sagt: Das Problem ist bekannt. Doch wer nicht genug Geld für Planstellen und gute Jobs hat, muss womöglich die inneren Strukturen grundlegender umbauen. Von den rund 180.000 Soldaten ist laut Darstellung des Heeresinspekteurs bei einer Veranstaltung der FDP-Bundestagsfraktion nicht einmal die Hälfte operativ tätig. 100.000 verrichten ihren Dienst demnach in Stäben oder Ämtern. "Die sitzen auf der Tribüne, während 80.000 versuchen, den Krieg zu gewinnen."
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