Kein Zweifel: Europa, die EU, die europäische Geschichte – man mag sie aufrufen unter welchem Namen auch immer, aber die selige Vertrautheit, mit der wir uns in Jahrzehnten einzurichten pflegten in unserem Lebensraum, sie ist über Nacht wie verschwunden, abgelöst vom Geist der Unruhe und seiner alarmierenden Instabilität. Kann die Politik die mürbe gewordene Architektur der Nachkriegsordnung stabilisieren?
Bisher konnte man sich auf die britische Gelassenheit als ein Rezept gegen die Verführung zu Hektik und Aufgeregtheit verlassen. Zuletzt brach sich aber auch an der Themse der Ungeist der Unruhe Bahn: Mit dem Brexit meldete sich unter den Briten ein mächtiger Ruf zu Irrationalität und Umsturz zu Wort, und als deren Folge das Gefühl existenzieller Unsicherheit – der Preis, den das britische Establishment für seinen Leichtsinn zu zahlen bereit war.
Mit Donald Trump tritt die rohe Gewalt von Geschichte als Meisterklasse der Täuschung auf die Bühne, mit der Behauptung, der Krieg in der Ukraine nähere sich einer friedlichen Lösung, wenn nur der amerikanische Präsident mit seiner Dynamik die richtigen Signale der Versöhnung unter den streitenden Parteien in die Welt setze.
Die Wahrheit sieht nüchterner aus: Der viel gelobte Trump/Putin-Telefon-Dialog vom Dienstag brachte als Ergebnis das russische Versprechen auf den Plan, für 30 Tage eine Feuerpause einlegen zu wollen gegen Elektrizität- und andere Infrastruktur-Adressen in der Ukraine. Friedlich gestimmt wie immer gab sich Wladimir Putin, als er den Kampf der Drohnen umgehend wieder aufnahm.
Russlands Appetit auf die ganze Ukraine kennt kein Nachlassen. Die Antwort der freien Welt darauf auch nicht. In Keir Starmer trifft der russische Präsident auf ein neues Gegenüber, von dem die wenigsten Menschen eine Ahnung hatten – ein Kopf rechtsanwaltlicher Erfahrung, der von 2008 bis 2013 als Direktor des Crown Prosecution Service, der britischen Staatsanwaltschaft, fungierte.
Ein Mann der Mitte
Starmer wurde bei der Unterhauswahl vom 4. Juli 2024 Premierminister und löste damit die Ära der Konservativen ab, die in 14 Jahren unter fünf Regierungschefs nichts produziert hatten als den politischen Abstieg des Landes.
Monate vor seinem Erdrutschsieg, noch in der Opposition, wählte Labour Keir Starmer als ihren neuen Parteichef – eine erstaunliche Metamorphose. Denn mit Starmer nahm Labour Abschied von Jeremy Corbyn, dem in der Wolle gefärbten Marxisten, der die Labour Partei unter seiner ideologischen Präferenz, einem linksextremen Marxismus-Verschnitt, an den Rand der Wählbarkeit geführt hatte und damit in die Verzweiflung, dass Labour in Großbritannien jemals wieder zu einem ernst zu nehmenden politischen Faktor aufsteigen könnte.
Starmer, von seinem Temperament her ein Mann der Mitte, wie es das Amt des höchsten Kronanwalts nahelegt, war wie eine Erlösung aus sichtlicher Krisennot. Dass sich ein harter Kern im Mantel seines gemäßigten Naturells verbarg, machte er deutlich, als er kompromisslos eine ideologische Pfründe nach der anderen aus den linken Liegenschaften herausbrach, in einem beispiellosen Kampf um das Herz von Labour nach den Dürre-Jahren unter Corbyn.
Okkupanten der Downing Street, auch konservative, pflegen ihren Aufstieg dem Karriere-Muster der politischen Elite Großbritanniens zu verdanken, frühe Jahre im Milieu privater Erziehung waren tonangebend. Nicht in der Laufbahn Keir Stamers. Die Universität Oxford besuchte er erst nach einem Grundstudium der Jurisprudenz im nordenglischen Leeds, ehe er im zweiten Anlauf den Bachelor of Civil Law in Oxford hinzuerwarb.
Von Haus aus auf pragmatische Lebensentwürfe eingestellt – der Vater war Selbstständiger im Werkzeughandel, die Mutter absolvierte, wie er, eine Anwaltslaufbahn – stieß Starmer spät zu politischer Tätigkeit vor, engagierte sich zunächst für Menschenrechtsfragen und Fälle von sozialer Benachteiligung in dem großen Feld gesellschaftlicher Ungleichheit, die der Kapitalismus auf der Insel wie eine Wunde in sich trägt.
2022 wurde auch für Starmer ein Wendejahr, denn der russische Überfall auf die Ukraine veränderte die innenpolitisch geprägten Parteidebatten über Nacht – der Horizont weitete sich zu geopolitischer Dimension, Starmer als frisch installierter Anführer von Labour musste geradestehen für mehr als soziale Fragen an der britischen Heimatfront.
Ein Mann mit seinem Talent zum Ausgleich wurde plötzlich zu diplomatischen Höchstleistungen angespornt, angesichts des oft widersprüchlichen Auftretens eines Donald Trump und der imperialen Gebärden Wladimirs Putins. Studienbücher zum Verstehen des amerikanischen Präsidenten gibt es nicht, Starmer ist quasi seiner Nase und seinem weltpolitischen Instinkt ausgeliefert, dem er sich als Repräsentant einer einst bedeutenden Großmacht wie Großbritannien verpflichtet fühlt.
Kooperation statt Konfrontation
Viel ist in dieser letzteren Kategorie im Kampf um den Brexit verloren gegangen. Starmer war entschieden gegen das Verlassen der EU, doch in den diversen Schattenkabinetten Jeremy Corbyns nahm er die Rolle des Vermittlers zwischen den Blöcken wahr, die intern Labour zu ersticken drohten. Inzwischen spielt der Brexit in der gegenwärtigen globalen Unruhe eine nur noch untergeordnete Rolle – er hat sich unter Trump, Putin und dem Ukraine-Krieg zu dem Nebenschauplatz entwickelt, den er von Anfang an hätte einnehmen müssen.
Das entspricht im Übrigen Starmers Grundüberzeugung, dass Großbritanniens Platz in Europa nicht durch Konfrontation, sondern durch Kooperation definiert wird, als aktiver Mitspieler der EU, aber qua Natur der britischen Geschichte selbstständig, berechtigt zu Eigeninitiativen.
Es scheint, dass Trump dies respektiert, denn er hat im Kontext seiner diversen Androhungen, was er auch gegen die EU alles an Zöllen und Auflagen im Schilde führe, Großbritannien bisher mit Nachsicht behandelt. Vielleicht möchte er sein Standing bei Hofe, die Einladung zu einem königlichen Dinner, nicht riskieren.
Ernsteres freilich steht auf dem Spiel. Obwohl kein Freund von anschärfender Rhetorik, lässt Starmer keinen Zweifel an der Führungsrolle, die er in der westlichen Abwehr der Putin-Gefahr zu spielen gedenkt. Anfang März rief er zum ersten Mal eine potenzielle „Koalition der Willigen“ auf den Plan, entschlossen, sich der russischen Aggression in den Weg zu stellen.
Selbst schwor er sein Land auf den erhöhten Wehretat von 2,7 Prozent ein – man dürfe nicht nachlassen, „für den Frieden zu kämpfen“. Zur Bekräftigung dieser Intention appellierte er vor einer Woche erneut an die „Koalition der Willigen“, die er zu einer virtuellen Konferenz zusammenrief, sich mit London zu entschiedener Hilfe für die umkämpfte Ukraine zu einigen.
Friedensdiplomatie mit schwierigen Partnern
Die Devise lautet zu versuchen, Putin an den Verhandlungstisch zu bringen. Ein Traum? Das Bild des Premiers, wie er vor seinem Laptop sitzt und reihenweise Antworten hereinholt zu seinen Vorschlägen, hatte etwas von rührender Direktheit unter Zeitgenossen, die der Glaube an die Wertewelt der Zivilisation wie selbstverständlich zusammenhält.
Donald Trump lebt von anderen Zielen. Ihn treibt die im Wahlkampf großsprecherisch abgegebene Behauptung, er könne binnen Tagen nach seiner Wahl zum Präsidenten den Krieg um die Ukraine beenden. Dabei ist der Eindruck verbreitet, der russische Präsident sei eigentlich an Friedensdiplomatie nicht interessiert, sondern suche nur nach Gelegenheiten, den Zeitpunkt für eine Ukraine-Einigung hinauszuschieben, bis das Land, dessen Existenz er nicht einmal anerkennt, entkräftet in seine Arme fällt.
Wird Putin das Versprechen einer Feuerpause zu neuer Aufrüstung nutzen? Von Trump wissen wir, wie leichtfüßig er von angeblichen Durchbrüchen im amerikanisch-russischen Dialog spricht, die Realität der Krise vertuschend. So gewährte er im Vorfeld des Telefon-Austausches in dieser Woche einen verräterischen Einblick in sein Denken, die Agenda des Gespräches: „Wir werden über Fragen von Land sprechen, auch über Kraftwerke. … Darüber sind wir bereits tief im Gespräch. Und über bestimmte ‚Assets‘ der jeweiligen Seite.“
Der Gedanke an „Friedensgespräche“ ohne Beteiligung der Ukraine weckt unter Beobachtern, nicht nur auf ukrainischer Seite, die schlimmsten Ahnungen. München 1938 tritt ins Gesichtsfeld – die Lösung der Tschechei-Krise als Morgengabe an den deutschen Diktator.
Facta sunt servanda, nicht Illusionen. So viel wenigstens haben wir inzwischen gelernt. Da ist es wichtig, unter den Gegnern Putins einen geschulten Rechtsanwalt wie Keir Starmer zu wissen, eine Instanz, die sich nicht täuschen lässt. Im Gang der weiteren Geschichte um das Schicksal der Ukraine hält Sir Keir als Wahrer des Rechts wertvolle Karten in der Hand.
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