Man könne das Vorgehen gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu damit erklären, dass Präsident Erdoğan Angst vor dem Machtverlust hat, sagt Türkei-Experte Dawid Bartelt. "Erdoğan hat dem Amt des Präsidenten so viel Macht gegeben, dass er Angst haben muss, dass diese Macht sich gegen ihn selbst wendet, sobald er nicht mehr Präsident ist."
"Sollte jemand wie Imamoglu in den Präsidentenpalast einziehen, dann muss Erdoğan fürchten, ziemlich schnell selbst im Gefängnis zu landen", so der Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung im Interview mit ntv.de. "Denn seine Machtfülle würde dann auf seinen politischen Gegner übergehen. Und anders als vielleicht bei İmamoğlu würde man bei Erdoğan zweifellos etwas finden."
ntv.de: Ekrem Imamoglu hat die Ermittlungen gegen sich als "Putsch" bezeichnet. Ist das eine zutreffende Beschreibung? Normalerweise findet ein Putsch gegen eine Regierung statt, nicht aus einer Regierung heraus.
Dawid Bartelt: Es gibt den Begriff des Putsches von oben, den ich in einer ersten Reaktion auch benutzt habe. Aber der Begriff ist wahrscheinlich doch irreführend. Wir haben es hier mit einem krassen Fall von politischer Justiz zu tun: Die Regierung setzt aus Gründen des Machterhalts eine weitgehend gleichgeschaltete Justiz ein, um einen politischen Opponenten aus dem Verkehr zu ziehen. Dafür ist der Begriff Putsch nicht hilfreich. Man könnte stattdessen von einer Putinisierung oder Russlandisierung der Türkei sprechen, aber ich glaube, das trifft es ebenfalls nicht.
Warum nicht?
Erstens: Die türkische Gesellschaft ist politisch ausdifferenziert, polarisiert. Präsident Erdoğan hat viele Anhänger, aber auch viele Gegner, die sich, wenn auch mit Behinderungen und Risiken, im öffentlichen Diskurs positionieren. Zweitens: Die Türkei ist zwar auf dem Weg zu einem autoritären Staat, aber es gab bislang trotzdem weiterhin Wahlen. Die waren zwar nicht fair, weil die Zugangsvoraussetzungen zur öffentlichen Meinung mittlerweile völlig ungleich verteilt sind und politisch Missliebige immer Gefahr laufen, im Gefängnis zu landen, so wie jetzt Imamoglu. Ein Großteil der Medien wird von der Regierung kontrolliert, die Opposition hat es schwer, da durchzudringen. Während der Demonstrationen dieser Tage wurde der Zugang zu den sozialen Medien eingeschränkt. Aber die Wahlen sind in dem Sinne frei, dass Wahlfälschungen nur in geringer Zahl stattfinden. Die Wahlbeteiligung in der Türkei ist auch immer noch sehr hoch. Oppositionspolitiker können Wahllokale als Wahlbeobachter besuchen und tun das auch. Trotz der klar autoritären Tendenzen hat weiterhin die Möglichkeit bestanden, das herrschende Regime abzuwählen. Bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr hat die AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan dann ja auch tatsächlich ihre Mehrheit verloren und İmamoğlus CHP wurde landesweit stärkste Kraft. Seither sind alle großen Städte in der Hand der CHP.
Trotzdem sitzt Erdoğan auf nationaler Ebene fest im Sattel. Politologen sprechen von einem kompetitiven Autoritarismus, von einem autoritären System mit Elementen des Wettbewerbs. Dieses Element fällt jetzt weg: Imamoglus Verhaftung war ein qualitativer Sprung hin zu einem wirklich autoritären System.
Neben Imamoglu wurden noch eine ganze Reihe von Personen aus seinem Umfeld verhaftet. Bei den Protesten wurden auch Journalisten festgenommen, und heute Morgen twitterte die politisch unbedeutende Türkische Kommunistische Partei, auch Mitglieder aus ihren Reihen seien festgenommen worden. Findet gerade eine größer angelegte Unterdrückung von Oppositionellen statt?
So würde ich das in der Tat sehen. Ich war am Samstagabend bei der Demonstration vor dem Rathaus hier in Istanbul. Da war auch eine kleine Gruppe der Zafer Partisi, der Partei des Sieges. Das ist eine rechtsnationalistische Oppositionspartei, deren Führer vor kurzem ebenfalls inhaftiert wurden. Spätestens mit der Verhaftung von Imamoglu ist allen Parteien der Opposition klar geworden: Es geht nicht allein um die CHP, auch wenn das die größte Oppositionspartei ist. Es geht auch nicht allein um Imamoglu. Sondern es geht generell um jede Form der Opposition, die Erdoğan gefährlich werden kann. Die kritischen Journalistinnen und Journalisten wissen das längst. Es kann tatsächlich jeden treffen - jeden, von dem die Regierung meint, dass er oder sie aus dem Verkehr gezogen werden sollte. Deshalb ist der Protest auch so breit.
Es ist kein Protest allein der CHP?
Nein, es ist ein Zusammenfluss von politisch sehr unterschiedlichen Kräften. Die CHP organisiert die Demonstrationen vor dem Rathaus in Istanbul. Dort tritt allabendlich CHP-Chef Özgür Özel auf, auch Imamoglu Frau und sein ältester Sohn. Aber unter den Leuten, die daran teilnehmen, sind viele, die CHP-kritisch eingestellt sind. Es ist die Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Aber gerade viele junge Leute - und es sind überwiegend junge Leute, die jetzt jeden Abend auf die Straße gehen - trauen der Partei nicht zu, ein gesellschaftliches Bündnis zu führen, das sich auch bei Demonstrationsverboten auf die Straße wagt. Sie wollen eine demokratische Türkei, und sie wollen Jobs und ein bisschen Wohlstand, alles zusammen. Das heißt, sie wollen ihre Zukunft nicht blockiert sehen. Man darf nicht vergessen: Die Proteste finden vor dem Hintergrund einer nicht enden wollenden Wirtschaftskrise statt. In der Türkei gibt es nach wie vor hohe zweistellige Inflationsraten. Die Bevölkerung ist zwar nicht mehr so arm wie vor dreißig Jahren. Da hat Erdoğan tatsächlich in der ersten Hälfte seiner langen Regierungszeit eine Menge Positives bewirkt, das wird ihm auch noch immer von vielen gedankt. Aber seine Unterstützung geht klar zurück, denn die Wirtschaftskrise macht die Leute ärmer.
In Russland hält sich das Narrativ, dass die Regierung an allem schuld ist, was schiefläuft - Putin selbst steht aber über der Regierung, gegen ihn persönlich richtet sich Kritik so gut wie nie. Funktioniert das in der Türkei ähnlich?
So war es jedenfalls bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023, sehr zum Frust der Opposition. Die CHP war sicher, dass sie die Wahlen gewinnen würde - zu sicher, wie sich herausstellte. Damals war nicht nur die Wirtschaftskrise eins der bestimmenden Themen, sondern auch das verheerende Erdbeben vom 7. Februar 2023. Die Regierung wurde damals heftig dafür kritisiert, nicht schnell und nicht adäquat genug reagiert zu haben, und für die Amnestien, die schlampige, nicht erdbebensichere Bauten im Nachhinein legalisierten. Erdoğan ist es gelungen, das von sich fernzuhalten. Den Leuten hat er vermittelt: Meine Partei, die AKP, macht vielleicht nicht alles richtig, aber ich bin der Einzige, der die Probleme lösen kann. Diese Wahrnehmung kommt auch nicht von ungefähr: Im türkischen Präsidialsystem, das er geschaffen hat, vereinigt Erdoğan alle Macht auf sich und sein Umfeld. Das ist ja auch Teil seiner Angst.
Erdoğan hat Angst vor seinem eigenen System?
Ich glaube, man kann das Vorgehen gegen Imamoglu mit der Angst erklären, die Macht zu verlieren. Erdoğan hat dem Amt des Präsidenten so viel Macht gegeben, dass er Angst haben muss, dass diese Macht sich gegen ihn selbst wendet, sobald er nicht mehr Präsident ist. Sollte jemand wie Imamoglu in den Präsidentenpalast einziehen, oder jemand wie Mansur Yavaş, der Oberbürgermeister von Ankara, der nun möglicherweise bei den nächsten Präsidentschaftswahlen CHP-Kandidat wird, dann muss Erdoğan fürchten, ziemlich schnell selbst im Gefängnis zu landen. Denn seine Machtfülle würde dann auf seinen politischen Gegner übergehen. Und anders als vielleicht bei İmamoğlu würde man bei Erdoğan zweifellos etwas finden.
Imamoglu wird unter anderem die Unterstützung einer terroristischen Organisation vorgeworfen, der PKK. Die Rede ist von der Beteiligung an einer Initiative zur Förderung des "Stadtkonsenses", deren Ziel es gewesen sei, den Einfluss der PKK in Großstädten auszuweiten. Was verbirgt sich dahinter?
Dahinter verbergen sich Wahlbündnisse zwischen der CHP und der Partei DEM bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr. Die DEM ist keine rein kurdische Partei, aber sie tritt für die Interessen der kurdischen Bevölkerung ein. In wichtigen Städten, in denen CHP-Bürgermeister zur Wiederwahl standen, hat die DEM damals auf eigene Kandidaten verzichtet und stattdessen eine Wahlempfehlung für die CHP-Kandidaten ausgesprochen. Das Etikett, unter dem das stattfand, lautete "städtische Versöhnung". Das war kein Geheimnis und auch nicht illegal. Aber die Gleichung, die hier angewendet wird, lautet: DEM gleich PKK gleich Terrorismus. Auf Basis dieser Gleichung wandern Leute seit Jahren ins Gefängnis.
Ein weiterer Vorwurf lautet auf Korruption und Bestechung. Imamoglu gehört eine Baufirma. Ist es vorstellbar, dass an diesen Vorwürfen etwas dran ist?
Wir müssen annehmen, dass das gesamte Verfahren politisch motiviert ist. Am Tag vor seiner Festnahme hatte die Istanbuler Universität auf Druck der RegierungImamoglus Diplom für ungültig erklärt. Das bedeutet, dass er nicht als Präsident kandidieren darf, denn in der Türkei gilt: kein Hochschulabschluss - keine Präsidentschaftskandidatur. Nach allem, was passiert ist, besteht überhaupt kein Zweifel, auch bei Erdoğan-Anhängern nicht, dass es sich um ein Vorgehen handelt, das allein dem Machterhalt dienen soll. Die von der Regierung kontrollierten Medien geben sich seither große Mühe, den Terrorismuszusammenhang und die Korruptionsvorwürfe mit Schaubildern nachzuweisen. Aber im Detail wissen wir noch nichts.
Die Vorwürfe und Behauptungen, die zu İmamoğlus Festnahme führten, werden gerade von erfahrenen Richtern, Polizisten und Journalisten untersucht. Wie es aussieht, basieren alle Vorwürfe, die sich auf die Istanbuler Stadtverwaltung und İmamoğlus Firma beziehen, auf anonymen Zeugenaussagen und nicht auf konkreten Beweisen.
Es gibt Korruption in der Türkei, gerade auf kommunaler Ebene. Das betrifft aber vor allem die von der AKP regierten Kommunen. Das war ein Grund, warum die Partei bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr so schlecht abgeschnitten hat. Die Leute sind dieser offenkundigen Korruption und Vetternwirtschaft einfach müde. Aber einen gravierenden Fall von Korruption halte ich bei İmamoğlu für schwer vorstellbar, denn gerade die von der Opposition regierten Kommunen werden vom türkischen Rechnungshof streng kontrolliert. Erdoğan betont immer, die Justiz sei unabhängig, er selbst habe nichts mit deren Ermittlungen zu tun. Genauso ist es eben nicht. Die Justiz ist nicht unabhängig, der Zeitpunkt ist nicht zufällig.
Warum jetzt?
İmamoğlu ist oder war bis jetzt der einzige Politiker in der Türkei, der Erdoğan gefährlich werden konnte. Seine Zustimmungswerte waren im Steigen begriffen, er war dabei, enorm an Sichtbarkeit zu gewinnen. Er ist bekennend gläubig und spricht auch konservative Moslems an, gleichzeitig zeigt er sich den Kurden gegenüber immer offen für Allianzen. Innerparteilich war seine Kandidatur geklärt, der Oberbürgermeister von Ankara hatte den Weg für İmamoğlu freigemacht. Am Sonntag ist er ja auch von der CHP zum Präsidentschaftskandidaten bestimmt worden. Mehr als 90 Prozent aller Mitglieder der Partei haben ihre Stimme für ihn abgeben, dazu viele Millionen anderer Bürgerinnen und Bürger, die die CHP zu einer symbolischen Stimmabgabe aufgerufen hatte. Zusammen nach CHP Angaben mehr als 15 Millionen Menschen, das ist immerhin fast ein Viertel der Wahlberechtigten in der Türkei.
Sie haben die Aberkennung seines Diploms angesprochen. Neben der Verhaftung wirkt die unnötig. Warum haben die Behörden sich nicht mit dem juristischen Vorgehen begnügt?
Ja, es hätte gereicht, sein Universitätsdiplom für ungültig zu erklären. Aber viele der autoritären Regime, die wir heute erleben, sind nicht so organisiert wie beispielsweise die lateinamerikanischen Militärdiktaturen der 1970er und 80er Jahre, wo Parlamente und Gerichte einfach dichtgemacht wurden. Heute gibt es häufig noch eine demokratische Fassade und die Fiktion einer Gewaltenteilung und einer unabhängigen Justiz. Möglicherweise hat Erdoğan befürchtet, dass die Aberkennung des Diploms nicht haltbar ist. Einige Juristen haben bereits gesagt, dass die Universität das gar nicht allein entscheiden darf. Gegen İmamoğlu laufen zudem schon länger weitere Verfahren. Erstinstanzlich ist er auch schon wegen Beamtenbeleidigung verurteilt worden, ursprünglich war die Berufungsverhandlung für April angesetzt. Auch das hätte als Hinderungsgrund gereicht: Wer rechtskräftig verurteilt ist, kann ebenfalls nicht Präsident werden. Deshalb ging es Erdoğan vermutlich darum, ein Exempel zu statuieren. İmamoğlu soll nicht nur als Mitbewerber unschädlich gemacht, sondern vollständig demontiert werden. Das wird auch gelingen.
Sie meinen, Erdoğan kommt damit durch?
Die Proteste kann Erdoğan aussitzen. Für eine dritte Amtszeit kann er zwar eigentlich nicht antreten. Aber er kann kandidieren, wenn die Wahlen vorgezogen werden. Regulär würde der nächste Präsident irgendwann Mitte 2028 gewählt. Ihm würde es reichen, wenn dieser Termin um ein oder zwei Monate vorgezogen wird.
Trotzdem gibt es auch Leute, die sagen: Erdoğan hat einen Fehler gemacht. Sicher ist, dass er jetzt nicht mehr zurückkann. Er muss das jetzt durchziehen, er muss den Schritt zum Autoritarismus gehen. Deshalb finde ich die Reaktionen aus dem Ausland bisher zu verhalten. Ich finde, es ist Zeit, den internationalen Druck auf die Türkei zu erhöhen und ihr klarzumachen, dass so etwas nicht hinnehmbar ist. Sonst wird es hier gefährlich.
Sie haben gesagt, es bestehe die theoretische Möglichkeit, dass das Regime abgewählt wird: Ist ein friedlicher Machtwechsel überhaupt vorstellbar, wenn Polizei, Armee und Justiz komplett von der AKP kontrolliert werden?
Im Moment würde ich sagen: Wenn auf den Fernsehbildschirmen irgendwann ein Wahlergebnis von 53 Prozent für İmamoğlu und 47 Prozent für Erdoğan erscheint, dann wäre sogar für Erdoğan das Risiko zu groß, an der Macht festzuhalten. Selbst wenn er die Armee aufrufen würde, die Fernsehsender und das Parlament zu besetzen, glaube ich nicht, dass das funktionieren würde. Das sieht Erdoğan vermutlich genauso. Deshalb macht er alles, um sicherzustellen, dass er die nächsten Wahlen gewinnt. İmamoğlu wegzusperren, war der erste wichtige Schritt dahin. Der zweite wird sein, die Inflation zu senken, den Kaufkraftverlust zu beenden. Den dritten Schritt muss das Parlament für ihn gehen: Er muss es dazu bringen, Neuwahlen anzusetzen, damit er ein weiteres Mal antreten kann.
Mit Dawid Bartelt sprach Hubertus Volmer
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