Russland gelingt es, mit wenig Geld viel aus seiner Rüstungsproduktion herauszuholen. Die Europäer müssten massiv nachrüsten, sagt Oberst Markus Reisner. An der Front sieht er Anzeichen für eine neue Offensive der Russen.
ntv.de: Im Netz kursiert eine Greenpeace-Studie, die vor weiterer Aufrüstung der Nato gegenüber Russland warnt. Darin heißt es, in Deutschland gebe es einen angstgetriebenen Aufrüstungsreflex, obwohl die Nato Russland militärisch deutlich überlegen sei. Was halten Sie davon?
Markus Reisner: Die Studie versucht, zu beschwichtigen. Sie behauptet, es sei nicht nötig, weitere Anstrengungen für die Aufrüstung zu übernehmen. Ich sehe das als falsch an! Weil die Studie vieles völlig negiert, einerseits den derzeitigen Zustand der europäischen Streitkräfte und Rüstungsproduktion und andererseits, was auf Seiten der Russischen Föderation unternommen worden ist in den letzten drei Jahren zum Aufrüsten ihrer Streitkräfte. Hier gibt es ein klares Missverhältnis zugunsten Russlands. Es gibt von der Londoner Denkfabrik Royal United Services Institute (Rusi) eine wesentlich aussagekräftigere Studie zu dem Thema. Sie kommt zu Ergebnissen, die völlig konträr sind zu jenen der Untersuchung von Greenpeace.
In der Studie des Thinktanks Rusi heißt es auch, Russland habe einen Vorsprung in der Rüstungsproduktion. Warum ist das so?
Viele tun sich schwer damit, zu verstehen, warum Russland den Krieg so lange durchhalten kann, mit seiner relativ niedrigen Wirtschaftskraft. Der erste Denkfehler ist, anzunehmen, Russland führe diesen Krieg allein. Erstens liefert China Bauteile, die wichtig für die Produktion sind. Zweitens nimmt Indien Moskau Rohstoffe ab und spült Geld in die Kassen des Kremls. Drittens gibt es Länder wie Nordkorea oder Iran, die Hardware liefern - bei den Iranern sind es Drohnen, bei den Nordkoreanern ist es Artilleriemunition. Außerdem gibt es weitere Staaten, etwa die GUS-Länder. Sie helfen Russland, die Sanktionen zu umgehen.
Was trägt Russland selbst bei?
Russland bekommt mit wenig Geld wesentlich mehr Leistung von seiner Rüstungsindustrie als die Nato-Länder. In dem Rusi-Bericht sind Beispiele dafür aufgeführt. Ein Beispiel ist die Artilleriemunition und deren Kosten. In Russland kostet eine Artilleriemunition vom Typ 152 Millimeter, also eine Granate, knapp 1000 Dollar, während in Europa der Preis von circa 800 bis 1000 Dollar vor dem Krieg auf mittlerweile 6000 bis 8000 Dollar angestiegen ist. Europa ist immer noch nicht in der Lage, das zu produzieren, was man bräuchte.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Russland hat 2023 und 2024 je knapp 2,5 bis 3 Millionen Artilleriegranaten produziert. Inklusive der Lieferungen aus Nordkorea hat Russland in diesen zwei Jahren bis zu 12 Millionen Artilleriegranaten zur Verfügung gehabt. Zudem werden in Russland jedes Jahr zwischen 2000 und 3000 gepanzerte Kampffahrzeuge, davon 10 bis 15 Prozent neu produziert, während die Ukraine diesbezüglich nur sehr eingeschränkt produzieren kann. In Europa gibt es hingegen viele Fahrzeuge, die nicht mehr einsatzbereit sind. Das heißt, wir haben zwar auf dem Papier große Bestände, aber verfügbar sind nur wenige Kampffahrzeuge. Ein weiteres Beispiel sind die Gleitbomben, die Russland einsetzt. Gleitbomben sind eigentlich alte Bomben, die man durch einen billigen Bausatz gleitfähig gemacht hat. Der Bausatz kostet circa 20.000 Dollar. Im Jahr 2024 hat Russland 40.000 Gleitbomben produziert, für 2025 rechnet man mit 70.000 Stück.
Wo kann man die militärische Überlegenheit Russlands momentan an der Front sehen?
Russland hat eine konstante Produktionsrate von etwa 100 bis 150 Marschflugkörpern unterschiedlicher Typen pro Monat. Damit ist es möglich, im Monat ein oder zwei schwere Angriffe durchzuführen. Die zusätzlich eingesetzten Drohnen dienen dazu, die ukrainische Fliegerabwehr abzulenken. Die Ukraine muss daher unbedingt vom Westen weiter unterstützt werden, um ihre Fliegerabwehr zu verbessern.
Russland hat seine Wirtschaft komplett auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die Wirtschaft ist darauf angewiesen, den Krieg weiterzuführen, oder?
Manche Beobachter sagen, es sei vor allem die Kriegswirtschaft, die jetzt die russische Wirtschaft am Leben erhält - neben dem Verkauf von Rohstoffen an die Verbündeten. In Russland gibt es laut Schätzungen etwa 3,5 Millionen Menschen, die im Dreischichtbetrieb in der Rüstungsindustrie arbeiten. Das schafft sowohl Jobs als auch Investitionen und lässt zusätzliches Geld in die Staatskasse fließen.
Die europäischen Länder möchten ihre Wirtschaft wahrscheinlich nicht komplett auf Kriegswirtschaft umstellen. Aber sie müssen es zu einem gewissen Punkt, um Russland Paroli zu bieten, oder?
Genau das ist das Dilemma: Natürlich möchte niemand in Europa sein Land auf Kriegswirtschaft umstellen. Andererseits müssen die europäischen Länder zumindest teilweise den Schritt in Richtung einer Kriegswirtschaft gehen, wenn sie möchten, dass sich die Ukraine erfolgreich gegen Russland wehrt. In den letzten drei Jahren wurde deutlich, dass Europa nicht auf den Angriffskrieg Russlands vorbereitet war. Europa hatte zu Beginn des Krieges nur wenig Artilleriemunition zur Verfügung. Erst durch die Produktion konnte das verbessert werden. Aber Europa bleibt bis heute im Wesentlichen in der Rüstungsproduktion zurück.
Warum?
Weil die Regierungen der Industrie keine klaren Vorgaben gegeben haben, was genau zu produzieren wäre. Zudem konkurrieren die Rüstungsindustrien der europäischen Länder untereinander. Das trägt nicht dazu bei, in kurzer Zeit das Maximale zu produzieren. Es gab auch zu wenig Fokus auf Massenproduktion. Man hat versucht, weiter hoch entwickelte Waffensysteme zu produzieren. Aber jetzt, in diesem Abnutzungskrieg, geht es vor allem um die Massenproduktion. Ein Problem ist auch, dass die Rüstungswirtschaft in Europa privatisiert und damit der freien Marktwirtschaft unterworfen ist. Ohne Preiskontrollen kommt es automatisch zu massiv steigenden Kosten, da viel Geld investiert werden muss.
Wie eine Analyse der AFP von Daten der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) ergab, verlangsamte sich der Vormarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine den vierten Monat in Folge. Wieso rücken die Russen immer langsamer vor?
Erstens konzentrierten sich die russischen Streitkräfte auf die Rückeroberung des Gebiets im russischen Gebiet Kursk. Die Russen wollten im Hinblick auf mögliche Verhandlungen unbedingt vermeiden, dass russisches Territorium der Ukraine als Faustpfand dient. Die Russen haben jetzt ihre Kräfte, die sie in Kursk eingesetzt hatten, wieder frei verfügbar. Die Ukraine greift nun vor allem im Raum Belgorod an. So will sie die Russen zwingen, dort so lange wie möglich die Truppen zu halten. Zweitens gibt es die Rasputiza, also die Schlammzeit, in der weite Flächen und unbefestigte Straßen in der Ukraine unpassierbar werden. Das ist zu sehen in den Videos beider Kriegsparteien. Wie bereits letztes Jahr wird diese Zeit von den Russen zur Umgruppierung genutzt.
Planen die Russen eine neue Offensive?
Die Russen setzen momentan verstärkt weitreichende Aufklärungs- und Waffensysteme hinter den ukrainischen Linien ein. Sie suchen nach Zielen und zerstören diese, möglicherweise in Vorbereitung einer weiteren Offensive, die man im beginnenden Frühsommer erwarten kann. Pokrowsk stand kurz davor, von Russen eingenommen zu werden. Die Ukraine konnte die Front aber stabilisieren. Russland konzentriert sich jetzt auf ein anderes Gebiet, die Truppen wollen in Richtung der Oblast Dnipropetrowsk vormarschieren. Auch in der Oblast Saporischschja sind Russen vormarschiert. Hier läuft möglicherweise ebenfalls die Vorbereitung für eine größere Operation.
Was sind Anzeichen für eine Offensive in Richtung Dnipropetrowsk?
Die Kämpfe unmittelbar südlich von Pokrowsk haben etwas nachgelassen. Also der Versuch der Umfassung der Stadt wurde vorerst eingestellt. Südwestlich von Pokrowsk gibt es eine wichtige Eisenbahnlinie, an der noch heftige Gefechte toben. Die Ukrainer versuchen offensichtlich, diese Eisenbahnlinie und den Eisenbahndamm wieder in Besitz zu nehmen. Im Süden von Pokrowsk drücken die Russen massiv in Richtung Westen. Hier fehlen nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze der Oblast Dnipropetrowsk. Ich nehme an, die russischen Truppen versuchen, noch vor dem 9. Mai die Oblast Dnipropetrowsk zu erreichen. Der 9. Mai wird in Russland als Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland gefeiert. Das Überschreiten der Grenze zu der Oblast Dnipropetrowsk hat nicht unmittelbar negative Folgen für die Ukraine. Es geht Moskau aber vor allem darum, am 9. Mai öffentlichkeitswirksam verkaufen zu können, einen Fuß in die nächste Oblast gesetzt zu haben.
Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl
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